Grim
Menschen legten, da glitt ein Schauer über ihren Rücken. Langsam wurden ihre Körper durchscheinend, und dann, mit lautlosem Seufzen, kehrten die Menschen zurück in ihre Welt. Mia blieb allein zurück. Für einen Moment stand sie still da. Dann rief sie die Kraft der Maske, sie spürte, wie sie sanft über ihren Körper strich. Schon begann das Bild der Traumwelt vor ihren Augen zu verwischen, doch sie sah noch, wie die Maske zu Boden fiel, wie sie sich in flüssiges Gold verwandelte und sich mit leisem Säuseln in den Himmel erhob, wo sie ein Stern wurde – der schönste Stern über einem Meer aus Farben. Mia sog das Bild in sich auf, das goldene Licht, das ihre Stirn liebkoste, und den Kosmos, den die Menschen rings um sie errichtet hatten. Sie schaute zu Grim hinüber, sie sah noch einmal sein Lächeln vor sich, dieses Lächeln, das sie erzittern ließ. Von der anderen Seite hatte er sie angeschaut, noch immer spürte sie seine Finger an ihrer Hand, und sie fühlte die Dunkelheit des Ozeans auf ihrer Haut – diese samtene, tiefe, unendliche Dunkelheit, die Grim in sich trug. Die Nebel der Traumwelt flossen vor ihrem Blick zusammen, sie spürte, wie sie zurückgetragen wurde in ihre andere Wirklichkeit, doch diesen Gedanken verlor sie nicht: Sie hatte Grims Finsternis gesehen, ihre Schönheit, ihre Grausamkeit. Er hatte sie dorthin mitgenommen, mehr noch: Vielleicht war sie schon immer dort gewesen. Doch nun hatte er sie ihr gezeigt.
Sie fand sich auf dem Platz vor der Prager Burg wieder. Rauch und Asche stoben durch die Reihen der Ghrogonier und Menschen, die sich dort zusammengefunden hatten. Mia hörte sie miteinander sprechen, sie sah die Verwundeten, Dämonen, die – von Bannschnüren gefesselt – in diamantene Kerker gesperrt wurden, sah Kronk und Mourier und Remis, der inmitten seiner Spürnasen zum Firmament schaute, doch bevor sie seinem Blick folgen konnte, traf sie der Schatten, der wie eine düstere Vorahnung über den Platz glitt. Sie schaute hinauf zum Himmel, der in verblassendem Gold erstrahlte – und erschrak. Dort oben schwebte ein Drache, riesengroß und obsidianschwarz wie ein Schemen aus undurchdringlicher Finsternis. Hoheitsvoll flog er über die Dächer der Stadt, die sich langsam von ihrer dämonischen Verzerrung befreiten. Seine Schuppen glänzten im matten Schein des Himmels, und als er die Schwingen ausbreitete und mit gewaltigem Rauschen auf dem Platz landete, wichen Anderwesen wie Menschen vor ihm zurück.
Regungslos starrten sie ihn an, doch er beachtete sie nicht. In kraftvoller Majestät hob er den Kopf, Mia konnte die Glut fühlen, die in seinem Körper schwelte. Niemals zuvor hatte sie einen solchen Drachen gesehen, eine Urgewalt aus der Ersten Zeit, und als er den Blick suchend durch die Menge schickte, stockte ihr der Atem. Seine Klauen krallten sich in den Boden, als wäre dieser weiches Fleisch, sein Atem ließ die Luft erzittern. Er konnte sie alle mit einem einzigen Schwingenschlag vernichten. Doch sie fürchtete sich nicht, und als er sie ansah, schlug ihr Herz wie ein wilder Vogel in ihrer Brust.
Die Augen des Drachen entflammten sich in schwarzem Feuer, als wäre dies die Antwort auf eine ungestellte Frage, und noch ehe er sich verwandelte, lief Mia in seine Richtung. Sie sah nicht, wie seine Schwingen sich zurückzogen, wie sein Gesicht sich veränderte und er die Gestalt eines Gargoyles annahm, dessen Leib von Wunden bedeckt war, und sie bemerkte auch nicht die Ehrfurcht und Bewunderung in den Augen der Umstehenden, als sie nun zu ihm hinüberschauten. Sie lief, so schnell sie konnte, sie hielt seinen Blick fest, als er langsam durch die Menge auf sie zuging. Er schwankte leicht, sie spürte die Erschöpfung in seinen Gliedern, doch erst, als sie in seinen Armen landete, erst, als sie ihn küsste und er sie festhielt, sank er langsam auf den Steinen nieder.
Zärtlich strich er ihr durchs Haar. Sie hörte sein Herz in seiner Brust, dunkel wie das Schlagen einer Glocke in der Ferne, und als sie den Blick hob und ihn ansah, gab es keinen Zweifel mehr und keine Fragen: Ein Wunder war es, das sie anschaute, ein Engel aus Schatten und Dunkelheit – jetzt und für immer.
Kapitel 57
Der Mond stand hoch über den Dächern von Paris. Er schicktesein Licht über die Straßen, dieses sanfte, kühle Silberglühen, das immer mehr sein würde als Hohngelächter, und Grim nahm ihm sein Schweigen nicht übel. Er stand allein auf seinem Turm, schaute hinab zu den
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