Grim
wichen vor ihr zurück wie vor einer Erscheinung, und sie löschte die Fackel ohne ein Wort.
Bhragan Nha’sul saß regungslos auf seinem Thron. Dunkelblaue Glut glomm in seinen Augen, und Mia meinte, etwas wie ein wahrhaftiges Lächeln darin zu erblicken. Er nickte kaum merklich.«Selten ist es vorgekommen, dass mich ein Mensch überrascht hat«, sagte er ohne jeden Spott. »Du hast gesiegt, und du sollst wissen, dass ein Ehrenwort in meinem Volk ein hohes Gut ist. So sei euch der Zutritt zur Bibliothek des Corax gestattet.«
Mia neigte den Kopf, sie spürte, wie die Erschöpfung jetzt in ihre Glieder strömte. Grim war bei ihr, bevor sie sich umwandte, und sie wollte ihn gerade ansehen, als ein Keuchen die Luft zerriss. Sie fuhr herum, sie sah noch Srradans tränenbeflecktes Gesicht, als er mit erhobener Faust auf sie zuraste – und hörte im nächsten Moment das Krachen, als Lyskian ihn an der Kehle packte.
Hochaufgerichtet stand der Vampir vor ihr, seine Kälte strömte mit aller Macht in Srradans Leib. Er würde ihn töten. Entsetzen spiegelte sich in dessen Blick, Mia hörte den Schrei, der in ihm widerklang, und noch ehe ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, legte sie Lyskian die Hand auf den Arm. Sein Gesicht war nichts mehr als eine Maske aus Kälte, und sie fühlte den Frost, der durch seine Kleidung drang. Doch gleichzeitig wusste sie, dass er die Wärme ihrer Finger spüren konnte, ein Hauch war es nur, aber doch genug, um die Schwärze aus seinem Blick zu ziehen und ihn sie ansehen zu lassen. Sie schüttelte den Kopf.
Vergiss nicht, was du mich gelehrt hast , sagte sie in Gedanken. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Er sah sie an, ein Lächeln flammte in seinen Augen auf. Ohne Srradan noch einmal anzuschauen, ließ er ihn fallen. Der Vampir landete auf dem Boden, er keuchte und fasste sich an die Kehle. Dann sank er ohnmächtig zusammen. Lyskian hingegen bewegte sich durch die Menge, er ging so schnell, dass die Vampire vor ihm zurückwichen, und stieß mit mächtiger Geste die Tür auf. Grim griff nach Mias Hand, Wärme strömte durch ihre Finger und ließ sie lächeln.
In der Tür wandte sie sich noch einmal um. Sie bemerkte, dass der Lord ihr nachschaute, und für einen kurzen Moment war etwas in seinem Blick, das wie ein Rätsel war oder eine Erinnerung. Das Blau seiner Augen umfing sie, und sie begriff, dass ebenfalls ein Schatten darin lag – ein Schatten tiefschwarz wie die Nacht. Dann kehrte die Kälte in seinen Blick zurück und ließ Mia allein in der Dunkelheit.
Kapitel 15
Der Wind pfiff eisig über den Platz und verlieh dem KlosterStrahov den Anschein einer lauernden Reglosigkeit inmitten des Sturms. Die Fenster in den alten Mauern blickten wie starre Totenaugen in die Nacht, und Grim hätte es nicht gewundert, wenn auf einmal Nebel rings um das Gemäuer aufgestiegen wäre, um die ganze Szenerie noch finsterer zu machen.
Schweigend ging er mit den anderen über den Platz und betrachtete Mia, die nach ihrer Konfrontation mit den Vampiren wieder etwas Farbe bekommen hatte. Mit unverhohlener Faszination sah sie zu dem Kloster hinüber. Sanft strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und erwiderte ihr Lächeln. Noch immer ging der Schreck durch seine Glieder, als er daran dachte, wie sie plötzlich vor den Lord getreten war und ihren wahnsinnigen Plan verkündet hatte. Und obwohl er schon seit Langem wusste, dass sie nicht mehr das wehrlose Menschenkind war, das er einst kennengelernt hatte, empfand er doch jedes Mal wieder einen ungeheuren Stolz, wenn sie ihre Kräfte einsetzte. Sie war ein Teil der Anderwelt geworden in den vergangenen Jahren – ein Teil seiner Welt.
Lyskian öffnete die Tür, indem er mit der linken Hand darüber hinstrich. Sofort streifte Grim die kühle, träge Luft, die er schon oft in Klöstern dieser Art wahrgenommen hatte, und als sie über eine gewundene Treppe ins Obergeschoss kamen, roch er den Duft uralter Gesteine, die aus einer Zeit stammten, in der die Welt noch jung und die Anderwelt nur eine Ahnung gewesen war. Sie gelangten in einen Gang mit hohen, weißgetünchten Decken. Zweiflügelige Glastüren öffneten sich wie von Geisterhand, als Lyskian sich ihnen näherte, und an den Wänden standen dunkle Vitrinen mit Waffen, ausgestopften Tieren und uralten Büchern. Remis schwirrte darüber hin und seufzte verzaubert, als
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