Grim
er ein Manuskript mit Pflanzenzeichnungen entdeckte. Sein blassgrüner Schein warf zitternde Schatten auf die Wände und die geschlossenen Türen, die zur rechten Seite von dem Gang abzweigten. Nur die letzte Tür am Ende des Ganges stand einen Spalt weit offen. Goldenes Licht fiel auf den Flur hinaus, samten legte es sich auf Grims Haut, und Mia stieß einen Laut des Erstaunens aus, als sie in den prachtvollen Bibliothekssaal des Klosters traten. Barockschränke mit unzähligen Folianten standen an den Wänden, antike Globen neben samtbezogenen Sesseln, und die Decke war mit kunstvollen Fresken bedeckt und glomm durch die gedämpfte Beleuchtung wie ein sonnengefluteter Himmel.
Mit leisem Zauberwort schob Lyskian eines der Regale beiseite, hinter dem sich ein Geheimgang auftat. Lange Bücherreihen zierten die Wände. Sie sahen mit ihren hauchdünnen Seiten aus wie Gebilde aus Asche. Grim zog die Schwingen ein. Wenn er eines der Bücher versehentlich berührte und es zu Staub zerfiel, käme vermutlich umgehend ein bösartiger Bibliothekar mit Zeigestock hinter einem der Regale hervorgesprungen und würfe Tintenfässer nach ihm. Er fühlte ihn deutlich, den Schatten, der sich in den Nischen des Ganges zusammenzog, und für einen Moment meinte er, das heisere Krächzen eines Raben in der Dunkelheit zu hören. Seine Miene verfinsterte sich. Die Bibliothek des Corax, benannt nach dem Wappentier Arkamons, jenes uralten Vampirs, der sie einst gründete, war ein Ort des Zwielichts, und als Lyskian die ersten Portale öffnete, wurde Grim eines unmissverständlich klar: Die Schutzvorrichtungen dieses Ortes dienten nicht nur dazu, unerwünschte Besucher fernzuhalten, sondern auch, um die Welt vor dem zu bewahren, was sich hinter den Riegeln und Schlössern verbarg. Wiederholt musste Lyskian sich an fragwürdigen kupferfarbenen Geräten mit Hilfe seines Blutes legitimieren, und als sie endlich vor dem pechschwarzen Tor standen, das einen Raben mit ausgebreiteten Schwingen zeigte, konnte Grim sich einer gewissen Anspannung nicht erwehren. Hinter diesem Tor lag ein Ort der Gefahren und Finsternisse, der jedem anderen seines Volkes bislang verwehrt geblieben war – ein Ort der Geheimnisse seit Tausenden von Jahren. Lyskian wandte sich zu ihnen um. Er strich ihnen über die Stirn, und Grim fühlte eine brennende Kälte auf seiner Haut. Nun steht ihr unter dem Schutz des Ewigen Blutes , sagte Lyskian in Gedanken und lächelte. Dann flüsterte er einen Zauber. Mit dem Geräusch schlagender Flügel öffnete sich das Tor. Grim spürte einen Windhauch, kurz schien es ihm, als würde er aus wachsbleichen Augen gemustert, die ihn vermutlich auf der Stelle zu Asche verbrennen konnten, wenn er versucht hätte, sich unerlaubterweise Zutritt zu diesem Ort zu verschaffen. Dann legte sich der Wind, und sie betraten die Bibliothek des Corax.
Für einen Moment hielt Grim den Atem an. Noch nie war er in einer solchen Bibliothek gewesen, und als Remis auf seine Schulter flog und seufzte, konnte er sich nur gerade eben noch davon abhalten, es ihm gleichzutun. Sie befanden sich in einem Raum, der an ein gewaltiges Kirchenschiff erinnerte. Mehrstöckige Regale aus dunklem Holz bedeckten die Wände, nur vereinzelt unterbrochen von kunstvollen Steinmetzarbeiten. Brüstungen und Geländer verzierten die obersten Etagen, die durch Wendeltreppen erreichbar waren, und goldene Rankenschnitzereien liefen in filigranen Mustern über das Holz. In den Regalen standen Bücher jeder Form und Größe, mit farbigen Einbänden und Lesebändchen, in Haut gebundene Manuskripte, Folianten, die fast so groß waren wie Mia, und Stapel versiegelter Pergamentrollen. Unter gläsernen Lüstern saßen Vampire an Schreibtischen und Sekretären, die in scheinbarer Willkür im Raum verteilt standen, Schattengnome schlichen an alten Ohrensesseln vorüber, und Kobolde schwirrten als Helfer des Corax mit Zetteln durch die Gegend oder entzündeten erloschene Petroleumlampen. Zwischen ihnen huschten andere Geschöpfe durch den Raum – Kreaturen, die Grim nur sehr selten und auch dann nur flüchtig gesehen hatte. Rhezotonen , so wurden sie von den meisten Anderwesen in der Sprache der Ersten Zeit genannt, Diener des Wortes , doch Grim hatte sie seit seiner ersten Begegnung mit diesen Wesen Buchlinge getauft, ohne sagen zu können, aus welchem Grund. Sie waren ihm ein Rätsel, und damit war er nicht allein. Niemand wusste genau, wer oder was sie waren. Manche behaupteten, sie wären
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