Grim
Er sah noch, wie der Dämon zu Lyskians Füßen verschlagen grinste. Kurz meinte er, den Zorn des Vampirs zu spüren, eine Regung, die er nur sehr selten wahrgenommen hatte in all den Jahrhunderten, die sie sich kannten, und die kalt war wie der Tod. Dann hatten die ersten Dämonen sie erreicht, doch gerade, als ihre Klauen den Wall trafen, hob Lyskian die Faust und zerriss die Illusion. Grim landete direkt neben dem kostbaren Buch in der Bibliothek und verfluchte sich dafür, nicht eine Winzigkeit weiter rechts hinabgefallen zu sein. Stöhnend kam er auf die Beine.
»Gute Reise gehabt?«, fragte Fharrl mit dem Lächeln eines Flugbegleiters, der in seiner Laufbahn mindestens ein Luftloch zu viel erwischt hatte. »Ich wünsche euch viel Vergnügen bei eurer weiteren Fahrt und … « Er fing einen Blick von Lyskian auf und verstummte. »Schon gut, schon gut«, murrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann euch sagen: Früher war die Stimmung bedeutend besser in diesen Mauern!«
Damit warf er theatralisch die Arme in die Luft, stob in die Seite des Buches hinein und schlug es mit lautem Knall zu.
Grim fixierte Lyskian mit seinem Blick. »Es wäre ausgesprochen nett gewesen, wenn du uns an deinem Wissen über die … Insassen der Akademie hättest teilhaben lassen, bevor wir ihnen begegnet sind.«
»Verzeih mir«, erwiderte Lyskian kühl. »Das nächste Mal werde ich dich genauestens informieren, damit du sicherheitshalber vor der Tür warten kannst, während wir unserem Ziel einen Schritt näher kommen.«
Grim hatte schon zu einer Antwort angesetzt, als der Spott von Lyskians Zügen wich. Etwas Schattenhaftes lag auf einmal in seinen Augen, ein Schimmer von Trauer und Schmerz, der Grim innehalten ließ. Selten hatte er Lyskians sonst meist so beherrschte Miene mit einem solchen Ausdruck gesehen, und auch, wenn er dem Vampir am liebsten sein kostbares Buch über den Schädel gezogen hätte, verrauchte sein Zorn angesichts der Dunkelheit in dessen Blick.
»Ihr habt den Dämon gesehen, den ich gefangen habe«, sagte Lyskian. »Ich kannte ihn vor … langer Zeit. Ich hörte, dass er die Akademie der Jäger mit eigenen Augen gesehen hat, doch ich konnte mir nicht sicher sein – bis jetzt.«
»Es besteht also die Möglichkeit, dass er weiß, wo sie sich befindet«, stellte Mia fest. »Aber die Illusion der Akademie ist alt, wir wissen nicht, wo der Dämon jetzt ist, und mit verschollenen Exemplaren seines Volkes haben wir ja nun schon genug Probleme. Wie … «
Ein dunkles Glimmen durchzog Lyskians Augen, das sie innehalten ließ. Es war, als hätte er die Schatten, die gerade noch auf seinen Zügen gelegen hatten, in seinen Pupillen konzentriert. »Sein Name ist Ogrul Pherilyon Phaar, erster Sohn des Achnayon, neunter Kreis, Phy. Er ist vor langer Zeit durch Nacht und Asche gereist, um in die Hallen des Ewigen Sturms einzugehen.«
»Er ist tot?«, rief Remis und schaute so unglücklich aus der Wäsche, dass Grim beinahe Mitleid mit ihm bekam.
Lyskian lächelte kaum merklich. »Es gibt kein Ende für eine Kreatur seiner Art. Er ist an einen anderen Ort gegangen, eine Finsternis, die jedes sterbliche Wesen erblinden ließe. Wir werden ihn zu uns befehlen aus Braskaton – dem Totenreich der Dämonen.«
Kapitel 16
Golden legte sich das Licht der Laternen auf das Kopfstein- pflaster der Karlsbrücke und verwandelte die Gargoyles aufdem Geländer in schwarze Schatten. Einige von ihnen hatten ihre Positionen verlassen, seltsam leer ragten ihre Sockel in die Nacht. Andere neigten kaum merklich vor Grim den Kopf, als er an ihnen vorüberging, und musterten Mia ausdruckslos. Die Gargoyles Prags waren anders als alle anderen Angehörigen des Steinernen Volkes, die Mia bislang kennengelernt hatte, und jedes Mal, wenn sie in ihre dunkelroten Augen sah oder ihre rauchigen, immer ein wenig heiseren Stimmen hörte, dann meinte sie, den Wind östlicher Tundren auf ihrer Haut zu fühlen und den Schnee und den Frost schwarzer Gebirge. Sie schaute auf ihre Hand, die bleich wie aus Wachs in Grims Klaue lag, und kurz überkam sie der Gedanke, wie vergänglich sie war im Vergleich zu einem Wesen wie ihm.
Die Moldau rauschte unter ihnen dahin, und Mia versuchte, sich an den grauen Strom der Seine zu erinnern, an das Grollen des Tibers, aber diese Gedanken versanken in den Fluten des schweren schwarzen Flusses unter ihr, der wie eine geheimnisvolle Fremde an ihr vorüberzog und dessen Duft ihre Wangen streifte, ein
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