Grim
herber, salziger Geruch nach Kälte und Einsamkeit. Müdigkeit pochte hinter ihrer Stirn, und während sie die Brücke hinter sich ließen, sehnte sie sich danach, sich im Islis in ein Bett zu kuscheln und zu schlafen. Grim hatte ihr von der Gargoylesiedlung im Vyšehrad erzählt, sie wusste, dass bereits Zimmer für sie vorbereitet worden waren, in denen sie übernachten konnten, und sie meinte fast, die Wärme der Kaminfeuer auf ihrer Haut zu spüren. Doch Lyskian ließ ihnen keine Ruhe. Die Schatten in seinem Blick loderten unruhig, und die seltsame Anspannung, die seit dem Beginn ihrer Reise von ihm ausging, schien mit jedem seiner Schritte zuzunehmen, als würde er auf etw as zusteuern, das er zu gleichen Teilen ersehnte und fürchtete.
Vor einem kleinen, etwas windschiefen Haus blieben sie stehen. Von den hölzernen Läden blätterte die Farbe, die Dunkelheit hinter den Fenstern wurde nur von einem schwachen Lichtschein durchbrochen. Neugierig spähte Remis ins Innere und fuhr gleich darauf erschrocken zurück. Unzählige Gesichter schauten mit lebhaftem Mienenspiel von der anderen Seite auf die Straße. Erst auf den zweiten Blick stellte Mia fest, dass es Marionetten waren. Das Licht fiel geisterhaft aus einem der hinteren Zimmer und ließ die Schatten in ihren Augen tanzen.
»Ich wusste nicht, dass wir auf der Suche nach einem Souvenir sind«, murmelte Grim, als Lyskians Klopfen dumpf im Inneren des Hauses widerklang.
»Du magst die Katakomben dieser Stadt kennen«, erwiderte der Vampir. »Die dreckigen Löcher unter der Kampa, die Tunnel und Höhlen, in denen einst die Aufstände tobten, oder die stinkenden Moore weit unter diesen Straßen. Doch es geht noch tiefer hinab in die Schatten, du weißt das. Und hier oben, wo das wahre Zwielicht herrscht, in dem Licht und Finsternis so nah beieinanderliegen, dass sie so manchem Auge wie ein und dasselbe erscheinen, wärest du verloren ohne mich.«
Grim setzte zu einer Entgegnung an, doch ein Rumpeln im Inneren des Hauses ließ ihn innehalten. Der Schein einer Petroleumlampe sprang über die Puppengesichter und ließ sie grinsen, ehe die Tür mit leisem Knarzen geöffnet wurde.
Im Licht stand ein Vampir. Er war in einen unförmigen Umhang gehüllt, graue Strähnen durchzogen sein dunkles, halblanges Haar, und über sein kantiges Antlitz flackerten Schatten. Ein grauer Schleier lag auf seinen Augen, als wäre er halb erblindet, doch als sich ein Lächeln auf seinen Mund legte, flammte etwas darunter auf wie ein Funke, der den Schleier doch nicht ganz zerreißen konnte.
»Hoher Prinz der Vampire«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich hörte von Eurer Ankunft in der Goldenen Stadt und es ist mir eine Freude, dass ich Eurer ansichtig werde.«
Lyskian erwiderte sein Lächeln. »Meister Alvinor«, sagte er und neigte leicht den Kopf. »Es ist lange her.«
Alvinor lachte, es war ein hartes Lachen, aber der Funke in seinen Augen tanzte wie eine Flamme hinter dichtem Nebel und ließ sein Gesicht strahlen. »Wenn Ihr das wisst, so habt Ihr jedenfalls den Begriff der Zeit noch nicht verloren wie andere unseres Volkes«, erwiderte er mit schelmischem Grinsen. »Eurem Mentor hätte das gefallen. Ich denke oft an ihn in diesen finsteren Tagen. Bhrogrum Dakaskos, dieser Krieger, der auch Euch zu einem solchen machte, und zu dem Blutsauger wie meinesgleichen, die ihr ewiges Leben über den staubigen Seiten von Büchern verbringen, ehrfürchtig aufblicken. Sein Tod war ein schwerer Verlust für uns alle.«
Lyskian erwiderte nichts, doch Mia bemerkte den Glanz, der für einen Moment durch seine Augen ging. Er hatte es stets vermieden, mit ihr über seine Vergangenheit zu sprechen, doch nun, da sie erstmals den Namen seines Mentors hörte, wurde ihr erneut bewusst, wie alt er wirklich war.
Da fuhr Alvinor fort: »Doch nicht nur die Nachricht von Eurer Ankunft durchzieht die Schatten, werter Prinz. Ich hörte auch von Euren Gefährten. Welch eine Seltenheit, eine solche Gruppe friedlich beisammen zu sehen. Kommt herein, der Wind weht von Osten, er ist kalt und erzählt Geschichten, die man nicht hören sollte in einer derart dunklen Nacht.«
Er trat beiseite und ließ sie herein. Sofort umfing Mia der Duft von Kerzenrauch, und sie hörte das Klackern der Marionetten, die an Decke und Wänden hingen und sich im Windzug bewegten. Die verschiedensten Gestalten schauten auf sie herab, Hexen, Räuber, Wassermänner und Harlekine, aber auch Teufel, Musiker, Drachen und ein Mann mit
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