Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
etwa schlauer sein als er und Jury? »Gütiger Himmel, Polly, das ist ja schrecklich. Sie schreiben aber doch andere Bücher.«
»Ich hätte Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder wer weiß was schreiben können, und man hätte mich trotzdem weiter der Schundliteratur zugeordnet.«
»Aber ich mag Ihren Inspector Guermantes. Von der Sürete.« Noch lieber hätte er ihn gemocht, wenn Polly sich für ihre Namen nicht bei Proust bedient hätte.
»Ich auch, das heißt aber nicht, dass ich jeden Tanz mit ihm tanzen muss. Bloß wenn ich das nicht tue, ende ich wahrscheinlich wieder als Mauerblümchen.«
»Soweit wird es nie kommen.« Melrose stieß sich vom Tisch ab und machte dem Kellner ein Zeichen, der mit zwei Kollegen hinten in der Ecke lauerte. »Ich muss gehen, Polly.«
Polly betrachtete ihr leeres Weetabix-Schüsselchen. »Ja, ich eigentlich auch.«
»Polly, wann kommen Sie mich denn endlich mal besuchen? Ich habe Sie schon mehrmals eingeladen.«
»Würde ich ja gern.« Sie raffte den Mantel enger um sich. Er hatte eine von Pollys typischen, wenig schmeichelhaften Farben, ein Rostrot, das tatsächlich rostig aussah. »Ich wäre bestimmt total überwältigt. Von Ihrem Haus und Ihren stinkvornehmen Freunden.«
»Eins ist sicher - für Mrs. Withersby sind Sie keine Konkurrenz.« Melrose war das Warten auf die Rechnung Leid und häufte das Geld auf den Tisch, dazu ein stattliches Trinkgeld.
»Wer ist das denn?« »Eine von meinen stinkvornehmen Freundinnen.«
Zuerst machte Melrose bei Hamley's in der Regent Street Halt. In Anbetracht der Tatsache, dass es nur noch zwei Tage bis Weihnachten waren, hatte er sich bezüglich der Menschenmassen nicht getäuscht. Der Laden war rappelvoll, natürlich mit Kindern.
Als er unbesonnener weise stehen blieb, um sich das trendigste Spielzeug dieses Jahres zu betrachten - eine mit Roboterpersonal bemannte Art Mondstation -, fand er sich plötzlich von lauter Kleinen umringt, von denen eine mit ihren klebrigen Fingern an seine schwarzen Jeans geriet und ihn ansah, als wäre er eine Leiter, die sie nun gleich auf der Suche nach einem Logenplatz erklimmen wollte. Sie machte ein so betrübtes Gesichtchen, dass er sie seufzend hochhob und sich auf die Schultern setzte. Jetzt steckte sie ihre Finger in sein Haar, und er lauschte den plappernden, staunend nach Luft schnappenden Kindern, die sehnsüchtig auf dieses Spielzeug starrten. Der ganze Laden brummte und wogte in weihnachtlicher Vorfreude.
Die Eltern dieser Kinder standen lässig herum und scherten sich offensichtlich keinen Deut darum, dass ihre kleinen Lieblinge sich womöglich in den Klauen des Schlächters von der Regent Street befanden. Als er genug davon hatte, sich die Haare zerrupfen zu lassen, stellte Melrose die Kleine wieder ab, woraufhin sie prompt anfing zu heulen, verlangte, wieder aufgenommen zu werden, und ihm mitleiderregend die Ärmchen entgegenstreckte. Er tätschelte ihr den Kopf und bahnte sich mit Brachialgewalt einen Weg durch die zuckersirupzähe Menschenmenge. Eine etwas abgekämpfte Verkäuferin wies ihn in die richtige Richtung.
Er suchte auf den Verkaufstischen herum, ohne jedoch zu finden, was er suchte. Er wollte sich schon abwenden, als sein Blick auf einen Artikel fiel, der womöglich genau das Richtige war, denn er war schön elastisch. Er zupfte ihn von dem langen Wandhaken und pflügte sich durch das kunterbunte Gewoge von Kindern zur Kasse durch.
Auf dem Gehsteig draußen blieb er stehen und überlegte. Die Leute wichen ihm gewandt aus, als wäre er nicht mehr als ein störender Felsbrocken inmitten eines reißenden Flusses. Er ging das kurze Stück zu Fuß zu Liberty's, wo er die Schreibwarenabteilung aufsuchte. Dort erstand er einen Schreibblock, begab sich hinunter in den Coffee Shop und holte sich einen Espresso. Dann setzte er sich mit dem Block hin und fertigte eine sorgfältige Zeichnung an.
Danach suchte er in der Oxford Street ein Münztelefon, das noch funktionierte, und rief Mr. Beaton an. Melrose erklärte ihm, was er wollte, und entschuldigte sich, dass er ihn so kurzfristig damit überfiel.
Sodann fuhr er mit dem Taxi in die Old Brompton Road.
Mr. Beaton, dessen Räume sich über einem Süßwarengeschäft befanden, war hoch erfreut, ihn nach - wie lange war es her? -drei Jahren wiederzusehen.
»Mylord«, sagte Mr. Beaton, eine Verbeugung andeutend.
Melrose hatte es nie übers Herz gebracht, Mr. Beaton zu gestehen, dass er seine Titel schon vor Jahren abgelegt
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