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Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz

Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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überrascht fest, dass er sie noch nie gesehen hatte. Doch sie blieb neben dem Sofa stehen, in der Hand ihre Tasse Tee, und betrachtete die Fotos mit ängstlichem Blick. »Mrs. Wasserman?«, sagte er behutsam.
    Sie zögerte. »Ja, und doch -«
    Sie wirkte sehr aufgewühlt. Das Foto von einem etwa dreizehn- oder vierzehnjährigen Mädchen sah er sich etwas genauer an. Links und rechts von ihr standen ein Mann und eine Frau, beide im mittleren Alter, bei denen es sich bestimmt um ihren Vater und ihre Mutter handelte. Nicht, dass er in dem Kind Mrs. Wasserman erkannte, es war eher so, dass die ältere Frau seiner Mrs. Wasserman ungeheuer ähnlich sah. Ihre Züge hatten sich damals nur noch nicht im Gesicht des halbwüchsigen Mädchens abgezeichnet.
    »Das sind Sie als junges Mädchen, nicht wahr?« Er tippte auf das Foto.
    Mrs. Wasserman stieß ein freudloses, leises Lachen aus. Es klang nervös, argwöhnisch. »Ja. Die Frau wird wohl meine Mutter sein. Der Mann ist mein Vater?«
    Es hörte sich an, als wollte sie von Jury eine Bestätigung erbitten. »Sie sehen wirklich aus wie Ihre Mutter.« Er musterte das Bild genau, den Hintergrund, das Gebäude, vor dem sie standen. Am rechten Bildrand sah er den Hacken eines Schuhs und ein winziges Stückchen Bein. Es war eine öffentliche Straße, auf der gerade jemand vorbeigegangen war. Er stellte sich vor, dass andere Passanten dem Fotografen nicht den Blick versperren wollten und zweifellos seitlich abwarteten, bis sie weitergehen konnten. Hinter der kleinen Familie befand sich ein Schild, dessen eine Hälfte von ihren Körpern fast verdeckt war. HÄNDLER, stand dort, und Jury überlegte, ob es vielleicht der zweite Teil des Wortes »Tabakhändler« war. Rechts standen ein paar Drehsäulen mit Postkarten neben einem Zeitungsständer. Jury kniff die Augen zusammen.
    »Mrs. Wasserman, haben Sie vielleicht eine Lupe?«
    Jetzt, wo sich jemand um ihr Problem kümmerte (was immer es sein mochte, Jury war sich noch nicht ganz sicher), tat sie eilfertig alles, was sie konnte.
    »Ja, ja.«
    Sie eilte zum Sekretär hinüber, zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine große Lupe, die sie Jury reichte.
    Jury hielt die Lupe dicht über das Foto. Er versuchte, das Datum auf dem Titelblatt der Zeitung zu erkennen. »Berlin« stand dort offenbar und dann noch irgendetwas. Er konnte sogar das Datum erkennen: 9. November 1938. Es kam ihm irgendwie bekannt vor. Leider war die Schlagzeile auf der
    Zeitung etwas zu dunkel.
    Ganz in Gedanken setzte sich Mrs. Wasserman auf die Kante eines Stuhles mit Rosenholzrahmen.
    »Sie haben in Berlin gelebt, nicht wahr? Ihr Vater -« Plötzlich wusste er es wieder: Ihr Vater war nach einer dieser entsetzlichen SS-Razzien ums Leben gekommen.
    Mit umwölkter Stirn wandte sie sich ab.
    »Eine Zeitlang, ja. Das muss damals gewesen sein.«
    Sie wies mit dem Kopf auf das Foto. Doch half der Schnappschuss ihrem Gedächtnis nicht auf die Sprünge, und das war es vielleicht, was ihr Sorgen machte.
    Er nahm das Foto mit den Kindern in der Obhut der schrecklichen Mrs. Simkin aus der Tasche und reichte es ihr.
    Sie setzte sich wieder die Brille auf und betrachtete es lächelnd.
    »Aber sind Sie das, Mr. Jury? Mit Ihren Freunden?«
    »Ich glaube schon, Mrs. Wasserman.« Er wollte ihr das Gefühl geben, dass sie mit ihrem mangelhaften Erinnerungsvermögen nicht allein war. »Bei manchen Dingen sind wir uns wohl nie ganz sicher.« Jury stand auf und wünschte ihr Gute Nacht.
    Während er die Treppe hochstieg, fiel es ihm ein: 9. November 1938. Kristallnacht. Das war's. Damals hatten sie ihren Vater weggebracht, auf Nimmerwiedersehen.
    Gedächtnisverlust, dachte er, kann manchmal auch eine glückliche Fügung sein.
    Später im Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Fotos von seiner Mutter und den Pflegekindern gegen die Nachttischlampe gelehnt, dachte Jury: Es hört nie auf. Es mag sich um eine Ecke erstrecken oder quer durchs ganze Land oder bis in den Tod, aber es endet nie, dieses Band zwischen Eltern und Kindern.
20
    Die ganze Strecke von Northampton zur Mi und an der Ausfahrt Newport Pagnel, wo sie kurz für ein Käsesandwich und ein Bier von der Autobahn herunterfuhren, dann wieder weiter auf der 61 Mi, an Baustellen vorbei, an denen sie nur im Schneckentempo vorankamen, nach Toddington zur erneuten Rast in einem Trusthouse Forte, wieder auf die Mi, an den Ausfahrten nach Luton und dem (rasch abgeschmetterten) Vorschlag vorbei, in Haysendon

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