Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
alles still, während sie genüsslich rauchte, tief inhalierte, kleine Rauchkringel ausstieß und einfach schweigend rauchte. Jury hätte gewettet, dass Newcastle eine der höchsten Raucherquoten im ganzen Land hatte.
»Also, Richard. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?«
Sarah war anscheinend unfähig, anders als in diesem bissigen, missgünstigen Ton mit ihm zu reden.
»Ich bin wegen einer Ermittlung hier«, log er, »und wollte dich eben mal besuchen. Tut mir Leid, dass es schon so lang her ist, dass ich das letzte Mal hier war. Meine Ausrede ist immer die gleiche: viel zu tun bei der Kripo.« Er hielt inne, überlegte, wie er anfangen sollte. Was es so schmerzlich machte, war die Tatsache, dass er sich um Auskünfte bemühte, die man ihm nicht würde geben wollen. Dass sie in der Lage war, Jurys Gedächtnislücken zu füllen, würde sie in eine Machtposition versetzen: Sie konnte geben oder
zurückhalten. Es war schwer begreiflich, dass sie immer noch diesen Groll aus Kindertagen hegte. Doch der, rief er sich ins Bewusstsein, richtete sich jetzt auch gegen ihn, gegen sein jetziges Leben, über das er im Bahnhofslokal seine Beobachtungen angestellt hatte.
»Weißt du noch, als wir Kinder waren?«
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ob ich was noch weiß?«
»Ach, ich meine nur... du weißt schon. Nichts Spezielles.« Als sie nicht darauf einging, sondern bloß rauchend und trinkend dasaß, wusste er nicht, wie er weitermachen sollte. Das Fenster, vor dem sein Sessel stand, ging nach Westen hinaus, und die untergehende Sonne verlieh den Wolken einen weißgoldenen Rand. »Ich dachte gerade an meine Mutter. Und an den Krieg. Du erinnerst dich doch, dass das Haus in der Fulham Road zerstört wurde. Ich kann die Bomben immer noch hören. Ich höre immer noch die eine, die das Haus getroffen hat.«
Sie musterte ihn verständnislos. »Das Haus hat schon eine Bombe getroffen, aber da warst du doch gar nicht da. Das war bei einem dieser >Pseudoangriffe< - 1944, glaub ich. Ja, ja, so ist das Leben, da überlebt man den Blitzkrieg, übersteht das Schlimmste, und wird dann beim letzten Angriff getötet, als es schon gar nicht mehr drauf ankommt.« Sie schüttelte den Kopf ob dieser Ironie.
Jury war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber ich dachte immer, ich wäre dort gewesen. Ich meine, ich erinnere mich... dass ich, hm, dort gewesen bin.« Die Verdunkelung, seine Mutter, unter den Trümmern begraben. Er konnte diese neue Information gar nicht verarbeiten.
»Du bist doch total verkorkst, Richard. Vielleicht brauchst du 'nen Seelenklempner.« Sie deutete ein Lächeln an, als bereitete es ihr diebisches Vergnügen, in Jurys Gedanken einzudringen, an einen Ort, wo sie vielleicht herumspielen, mit Tatsachen und Erinnerungen spielen konnte.
»Das Haus in Fulham. Ich sehe immer Mum vor mir... unter lauter Mörtel und Brettern.« Und er konnte nichts dagegen tun.
Sie fing unvermittelt an zu lachen.
Er war außer sich. »Was zum Teufel ist daran so komisch, Sarah?«
Ihr Lachen klang ziemlich gekünstelt. »Es ist bloß so... dramatisch, wie du es wiedergibst. Wie im Film.« Der Vergleich gefiel ihr. »Genau, wie in einem Kriegsfilm. Mrs. Miniver oder so was.«
Er konnte es kaum glauben. Wie hatte er sein Leben lang herumlaufen können, diese wenigen Erinnerungen unauslöschlich in seinem Kopf verhaftet, nur um dann zu entdecken, dass sie falsch waren, Schwindel, alles seine eigene Erfindung? Wie? Doch es hatte ihm ja frei gestanden, sie zu erfinden, niemand hatte je etwas Gegenteiliges behauptet. Wenn er seinen Onkel gefragt hätte, einen herzensguten Menschen, der hätte es ihm gesagt. Doch die meisten Erwachsenen würden so ein Thema natürlich von sich aus nicht zur Sprache bringen.
Sie drückte ihre Zigarette aus, trank ihr Adnams leer und stand auf. »Warte mal kurz.«
Sie ging aus dem Zimmer, und er konnte sie im anderen Zimmer herumgehen und fluchen hören, als wäre noch jemand bei ihr.
Als er gerade aufstehen wollte, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, kam sie mit einem weißen Schuhkarton zurück. Zwischen dem dunkelbraunen Sofa und den blauen Sesseln stand ein runder Tisch, den sie nun zu ihnen herüberzog. Ihren Sessel drehte sie so hin, dass sie ihm am Tisch gegenüber saß.
Fotos, dachte Jury. Noch mehr Fotos. Als sie den Deckel von der Schachtel schob, spürte er plötzlich, wie ihn ein Adrenalinschub in den Sessel drückte. Wenn sie anders waren, diese Bilder, anders als
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