Grimes, Martha - Inspektor Jury 20 - Inspektor Jury kommt auf den Hund NEU
unter den Tisch. Mungo erwiderte seinen Blick. Jury fand, er sah gelangweilt aus.
»Das sah Glynn gar nicht ähnlich - ohne Vorwarnung fortzugehen und den gemeinsamen Sohn mitzunehmen. Das hätte sie nie getan.«
Schon wieder die Vergangenheitsform. Ein speziell dafür zuständiger Kellner brachte einen großen, flachen Korb mit Brötchen und Baguettes. Jury nahm ein Brötchen und überlegte, ob es Mungo wohl schmecken würde. Er brach einen Brocken ab und ließ die Hand unter das weiße Tischtuch gleiten. Geschnüffel, dann leises Kauen.
»Wie war Robbie? Wie wurde er zu Hause behandelt?«
Harry blickte völlig konsterniert drein. »Sie wollen doch nicht etwa unterstellen - Sie glauben, Robbie wurde misshandelt?«
Schon war der Kellner wieder da und stellte ihnen die Salate hin.
»Ich will überhaupt nichts unterstellen. Es war nur eine Frage.« Jury zerteilte ein Endivienblatt. »Sie behaupten doch steif und fest, Glynnis Gaults Ehe sei glücklich gewesen. Sie hätte keinen Grund gehabt, wegzulaufen. Sie wollte ihren Mann nicht verlassen, wieso hat sie es dann trotzdem getan ? Mit Robbie war doch alles in Ordnung, nicht?«
»Ja, soviel ich weiß.« Stirnrunzelnd begutachtete Harry seinen Salat. Birnen und Walnüsse. »Habe ich das bestellt?«
»Jawohl!« Jury hatte den schlichten Salat des Hauses bestellt.
»Ich habe wohl zu viel getrunken.« Harry schnitt ein Stückchen von dem Stilton ab und krönte es mit einem Bissen Birne.
Ein in Ferragamo-Blau und Armani-Grau gewandtes Paar glitt anmutig auf die von zwei Kellnern bereitgehaltenen Stühle. Die Kellner verharrten noch ein paar Augenblicke, während Jury sich fragte, wer die beiden wohl waren. Oder was. Die Frau trug an einer Hand drei Ringe, die groß genug waren, um als Schlagringe dienen zu können, was ihr bei einem Handtaschenraub bestimmt nützlich wäre.
Der Sommelier kam mit einer Flasche Weißwein, die er Harry zur Begutachtung hinhielt. Harry nickte und wechselte mit dem Sommelier ein paar Worte auf Französisch, während der Wein entkorkt und sodann kredenzt wurde. Anschließend ging der Sommelier lässig zu dem attraktiven Paar hinüber, mit dem er, wieder auf Französisch, eine längere Unterhaltung führte. Der Mann redete mit lauter Stimme Französisch, als wollte er den Umsitzenden kundtun, dass er die Sprache tatsächlich beherrschte. Harry dagegen hatte leise und viel fließender gesprochen und es offensichtlich nicht darauf angelegt, seine Sprachkenntnisse an die große Glocke zu hängen.
»Das Einzige, worüber ich sie je hatte streiten hören«, sagte Harry, »war das Thema Schule. Aber das sagte ich Ihnen ja schon. Das ist auch der Grund, weshalb Glynnis ein Haus in der Nähe von Lark Rise suchte. Die dortige Schule soll sehr gut sein. Es gibt ja ganz verschiedene Formen von Autismus. Bei Robbie war es einfach so, dass er entweder gar nicht oder nur wenig redete. In seiner bisherigen Schule war er nur ein mittelmäßiger Schüler gewesen, aber Hugh missfiel die Idee, ihn aus seiner gewohnten Umgebung herauszureißen. Darüber haben sie sich gestritten.«
»Robbie neigte also nicht zu Wutausbrüchen, Reizbarkeit oder gewalttätigem Verhalten?«
»Nein. Glynnis wusste nicht so recht, was er von seiner Schule hielt. Sie vermutete, er war deshalb bloß mittelmäßig, weil es ihm dort nicht gefiel oder weil es ihn nicht interessierte oder sonst etwas. Das wäre aber noch kein Grund gewesen, sich eine andere Schule zu suchen.«
»Und würde bestimmt nicht erklären, was passiert ist. Ausgeschlossen. Aber war Robbie denn einverstanden mit diesem Ausflug nach Surrey?«
»Ja.«
Jury hatte Harry immer noch nicht gesagt, dass er dem Haus einen Besuch abgestattet hatte. Er wusste nicht, warum. »Waren Sie in letzter Zeit dort?«
»Nein.« Harry schüttelte den Kopf und starrte sinnierend auf seinen Salat.
»Glauben Sie, der Hund könnte eine Geruchsspur aufnehmen? Ich frage mich, ob ein Apportierhund oder ein Bluthund nach einem Jahr eine Fährte aufnehmen könnte.«
»Nun, ein Bluthund ist Mungo bestimmt nicht. Ich bin mir nicht sicher, was er ist. Die Ohren deuten allerdings auf Suchhundgene hin. Hugh hat ihn aus dem Tierheim geholt.« »Sehr schön, dann betrachtet er Hunde also nicht als Statussymbole.«
Harry hob das Tischtuch an, um einen Blick darunter zu werfen. Dabei schnalzte er mehrmals mit der Zunge, klick, klick, klick.
Für ein Tier, dachte Jury, wahrscheinlich völlig bedeutungslos.
»Definitiv kein Statussymbol.«
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