Grimes, Martha - Inspektor Jury 20 - Inspektor Jury kommt auf den Hund NEU
Morgenzimmer. Obwohl sich Jury nach einiger Überlegung nicht sicher war, wozu ein derartiger Raum diente, war es mit den hohen Flügeltüren, die auf die Terrasse hinausführten, bestimmt sehr angenehm, hier zu sitzen und in den regnerischen Morgen hinauszuschauen. Er kam also zu dem Schluss, dass dies die Funktion des Raumes war.
Wieder rief es in ihm eine Träumerei wach, versetzte ihn in einen leicht hypnotischen Zustand, und er hatte plötzlich das Gefühl, sich nicht bewegen zu können, oder aber er wollte sich gar nicht bewegen. Er musste an Hugh Gault denken und fragte sich, ob diese Art von Stagnation ihm vielleicht Trost bot. Wahrscheinlich schon, dachte er. In Melrose schien dieses Winterhaus gar nichts wachgerufen zu haben, obwohl Jury gedacht hätte, er sei weitaus empfänglicher für diese Atmosphäre, sei von ihnen beiden der Fantasievollere, Einfallsreichere, leichter zu Beeindruckende. Er fand es paradox, dass er, Jury, der sonst mehr mit Fakten und Zahlen zu tun hatte als mit Zauber und Hexerei, am Ende weit empfänglicher dafür war. Er spürte, wie die Vergangenheit schwer auf ihm lastete, doch es war seine Vergangenheit, nicht die dieses Hauses. Er kam sich vor wie eine Kamera, die Bilder auf die leere Wandfläche warf, von denen einige real, die meisten aber der Fantasie entsprungen waren.
Etwas verstört von diesen Gedanken trat er weiter nach links, wo sich durch die Terrassentür ein unverstellter Ausblick bot. In einiger Entfernung schien sich etwas zu bewegen. Als Jury das kleine Mädchen sah, dem er und Plant schon einmal begegnet waren, trat er hinaus und ging über die Rasenfläche in Richtung Spielhaus.
Sie hatte zwei Puppen in den Händen, die eine hübsch, die andere ziemlich schlicht gekleidet. Als er näher trat, versetzte die schlicht Gekleidete der Hübschen gerade einen Faustschlag mitten ins Gesicht. »Ach, hallo«, sagte sie.
»Hallo.« Er setzte sich auf den breiten Baumstumpf, der Melrose damals als Stuhl gedient hatte. Jury nickte der Inuit-Puppe zu, derjenigen, die der anderen mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Wie hatte sie sie genannt? Nicht Ugly. »Oogli kann ja gut boxen. Wen vertrimmt sie denn da?«
»Caroline.« Sie drehte die im rosa Rüschenkleidchen so hin, dass er genau sehen konnte, was zwischen ihr und der zimperlichen Caroline los war.
»Ist Caroline denn jemand ganz Bestimmtes?«
»Meine Cousine. Mit der wohn ich zusammen. Leider. Und muss sogar in einem Zimmer mit ihr schlafen.«
»Uuh!«, sagte Jury und verzog das Gesicht.
Was sie ihm hoch anrechnete. »>Uuh!< Genau! Ich muss mit Caroline ins Bett und mit Caroline aufstehen und mit Caroline frühstücken. Überall ist Caroline.«
Das hörte sich eher nach Gott an als nach dem Mädchen Caroline.
»Drum hau ich manchmal ab und komm hierher. Wenn Caroline es rausfindet, muss ich sie wahrscheinlich umbringen.« Diese rosige Aussicht rief ein Lächeln hervor. »Tut sie aber nicht, es ist nämlich zu weit weg, und man muss durch den Wald, und dazu ist sie zu faul. Sie kriegt dauernd schicke Kleider« - das rosa Kleidchen wurde wieder in den Blickpunkt gerückt - »und ich die einfachen Sachen.« Sie hielt Jury die Puppe zur Begutachtung dicht vors Gesicht. Dann trat sie zurück, damit Jury einen besseren Blick auf ihre alten Hochwasserjeans werfen konnte, auf ihr weißes T-Shirt und die braune Strickjacke.
»Mädchen tragen aber doch gar keine solchen schicken Kleider mehr. Caroline ist völlig aus der Mode. Alle Mädchen kleiden sich so wie du.«
Verblüfft musterte sie sich von oben bis unten. »Wollen die absichtlich furchtbar aussehen?« Sie überlegte. »Vielleicht haben die auch alle eine Caroline zu Hause.«
Damit traf sie so ins Schwarze, dass Jury lachen musste. Gleich darauf lachte sie auch.
»Aber was ist mit deiner Mum?«
»Hab ich Ihnen doch schon gesagt. Das ist meine Tante. Tante Brenda. Hab ich Ihnen gesagt, als Sie mit Ihrem Freund hier waren.«
Das stimmte. »Und wo ist deine Mum?«
»Tot. Wo mein Dad ist, weiß ich nicht. Der ist nie gekommen und hat mich von hier weggeholt.« Ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten, und die schlichte Puppe gab der anderen wieder gehörig eins auf die Löffel.
Jury versuchte, das Gespräch von Dad wegzulotsen. »Und dann bist du zu deiner Tante gezogen?« Sie nickte heftig. »Caroline darf auf Partys. Ich nicht. Sie hat Freundinnen, ich nicht, die darf sie auch zum Spielen nach Hause einladen.«
»Dann ist sie ja wenigstens eine
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