Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
noch eine dünne, mit Kapern und Kaviar gefüllte Scheibe Lachs? Und so machte er sich zu einem Spaziergang zwischen Farn und Felsen auf und kam sich schon wie ein richtiger wettergegerbter Einheimischer vor.
Nachdem er seine Schuhe von Schafdung gesäubert, ein Taschentuch um den blutigen Kratzer gebunden, seinen Knöchel, den er sich an einem trügerisch bemoosten Felsen gestoßen hatte, vorsichtig hin und her bewegt hatte, fand Melrose einen großen flachen Stein und setzte sich, um sich in die Betrachtung des dahinplätschernden Baches zu vertiefen.
Stellenweise lag noch Schnee, jenseits des Baches sah er Farngestrüpp und verbrannt aussehende Heide und in der Ferne eine Frau. Und da in den Mooren sowieso nur Irrlichter hausten, war auch sie anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht. Unversehens stand sie auf der Kuppe eines baumlosen, schneebedeckten Hügels. Sie trug einen Umhang, der sich hinter ihr blähte, und hatte nichts bei sich, was sie als Touristin ausgewiesen hätte, etwa als Wandersfrau auf dem Pennine- oder Brontë-Pfad; sie ging mit leeren Händen aus dem Nichts ins Nichts. Der Anblick faszinierte ihn, und er sah zu, wie sie als Silhouette vor dem bleichen Horizont dahinschritt, bis ihn ein Geräusch ablenkte. Es war ein eigenartig weinerlicher Laut, so als räusperte sich jemand, gefolgt von einer Art Katzengejaule. Hörten sich nicht Brachvögel an wie Katzen?
Die Frau war verschwunden. Er zündete sich eine Zigarette an, musterte das glühende Ende und schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur im Chesterfield-Mantel und mit silbernem Zigarettenetui ein Tête-à-tête mit der Natur erwarten? Er schüttelte erneut den Kopf. Ein hoffnungsloser Fall.
Er mußte Entscheidungen fällen.
Aber welche Entscheidungen? Die hatte man ihm doch alle abgenommen. Zweifellos saß Polly Praed genau in diesem Augenblick an ihrer Schreibmaschine, die amethystfarbenen Augen auf eine Seite gerichtet, wo es um nichts anderes als um Doggen und Dogen ging, und Vivian Rivington - Ach! Er fand sich einfach zum Speien. Die Schuld daran traf Trueblood; es war Truebloods Idee gewesen. Gelogen. Trueblood hatte zwar die Ausschneidebogen aufgetrieben, aber er hatte sofort mitgemacht. Was blieb denn noch vom Leben, wenn man Vivian nicht mehr piesacken konnte?
Wenn er etwas haßte, waren es Veränderungen. Während er so dasaß, überlegte er, ob er vielleicht Zen-Buddhist werden sollte. Wenn er das Wasser betrachtete, sich mit dem Bächlein dahintreiben ließ ... Gar keine üble Idee. Behaupteten die nicht immer, alles sei fließend? Man müsse sich aller Bindungen entledigen. Müsse das Leben als langen ruhigen Fluß auffassen und der Illusion abschwören, man könnte Wasser in der hohlen Hand halten.
Doch welchen Trost bot das Fließen, wo er doch wollte, daß alles beim alten blieb: Ewig dieselbe kleine Gruppe am selben Tisch in der »Hammerschmiede«; ewig derselbe kleine Terrier draußen vor Miss Crisps Trödelladen ...
Melrose blickte sich um. Schon wieder dieser Laut.
Und was war mit dem immerwährenden Hier und Heute? War das nicht auch ein Zen-Begriff?
Er durchstöberte den Korb und trieb tatsächlich noch einen panierten Hähnchenflügel auf. Das Dumme war, daß ihm jegliche Berufung abging, außer der, Studenten mit Vorlesungen über die Dichtung der französischen Romantik zu triezen. Er betrachtete den Flügel und dachte über Rimbaud nach.
Mußte er sich ausgerechnet ein Genie aussuchen, das mit neunzehn schon Weltbewegendes geschaffen und dann aufgehört hatte? Wo er mit neunzehn weiter nichts geschafft hatte, als vom Pferd zu fallen. Besser, er gab es auf, an all den Knochen noch etwas Fleisch finden zu wollen, sonst bekam er noch einen Silberblick. Er warf den Flügel in den Korb zurück. Natürlich hatte Agatha die halbe Flasche Pouilly-Fume ausgetrunken, welche die Köchin extra für ihn eingepackt hatte.
Dieses Mal ertönte der Laut näher und deutlicher. Melrose kniff die Augen zusammen und musterte die moosbedeckten Felsen. Das Miauen, das er einem Brachvogel zugeschrieben hatte, kam also doch von einer Katze: da saß sie, blinzelte mit den gelben Augen und sah hungrig aus.
Kaum kümmert man sich um sein eigenes Wohlergehen, schon kommt etwas daher, daß man sich deswegen schämt. Melrose steckte die Katze in den Korb - nachdem er zunächst die Hähnchenknochen weggeworfen hatte - und schleppte sie zur Straße.
An einer Kreuzung stand eine Frau, die offenbar auf irgend jemanden wartete. Sie
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