Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
gerechte Strafe für seine faulen Tricks.
Trueblood verschränkte die Arme, machte ein Schmollmündchen und musterte den Koffer. »Ach, ich weiß nicht recht, Melrose. Ich glaube, sie kommt damit aus. Lang genug sieht der Koffer ja aus. Schwer, natürlich, aber das macht die englische Muttererde. Vivian hat den halben Garten um-«
Vivian stieg die helle Röte in die Wangen, wodurch sie noch schöner wirkte. Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an Truebloods, und er lehnte sich zurück. Er schlang sich den gestreiften Schal immer fester um den Hals und rief gespielt bänglich: »Keinen Schritt weiter! Keinen Schritt weiter!«
»Ach, halten Sie doch den Mund! Ich weiß immer noch nicht, ob ich Sie überhaupt auf meiner Hochzeit haben will. Weiß der Himmel, was Sie alles anstellen.« Ihr hitziger Blick galt auch Melrose.
»Was sehen Sie mich so an! Habe ich etwa ein Wort gesagt? Nein.«
»Bleiben Sie dabei.« Dann wandte sie sich an Jury. »Sie sind so schweigsam«, sagte sie leise.
»Ich kann Bahnhöfe nicht ausstehen.« Carole-anne fiel ihm ein. »Und Flughäfen. Und Abschiede.«
Agatha zerrte an Melrose. »Wer «, so fragte sie, »ist die Person da?«
»Wer?«
»Na, die Person da im Café. Sie starrt uns schon eine geschlagene halbe Stunde an. Dich, aus unerfindlichen Gründen. Ich habe sie beobachtet, als du mich geknipst hast.«
Melrose warf einen Blick in Richtung des Bahnhofscafes, kniff die Augen zusammen und bewegte sich etwas auf die Spiegelglastür zu, hinter der eine junge Frau in Dunkelgrün stand. Er setzte seine Brille auf, blinzelte ... Ellen!
Er entwand sich Agathas Schraubstockgriff und drängelte sich durch die Passagiere, die zu ihren Zügen eilten.
Sofort drehte sich Ellen um, setzte sich auf einen Kunststoffstuhl und nippte an ihrem Tee.
Melrose pochte wie besessen an die Scheibe. Endlich drehte sie sich um und schenkte ihm einen sinnenden Blick. Wo um alles mochten sie einander schon begegnet sein?
Er bedeutete ihr unter wildem Gefuchtel, nach draußen zu kommen.
Als sie endlich auftauchte, stellte Melrose fest, daß die Principessa recht gehabt hatte. »Sie sehen unbeschreiblich aus.« Was tatsächlich stimmte. Das Kleid war vollkommen formlos, außer an den Stellen, wo ihm Ellen Form verlieh (und das nicht zu knapp); die schlammgrüne Farbe brachte ihr Gesicht überhaupt nicht zur Geltung. Das Gesicht aber, o Wunder, war sauber und die Nägel manikürt. Das Haar war gekämmt und wirkte, als habe es eine Behandlung mit dem Kreppeisen hinter sich. Und man konnte Beine und hohe Hacken sehen. Ein Anblick, mit dem es der Lido schwerlich aufnehmen konnte. Vielleicht sollte er sich doch noch einmal überlegen, ob er dort im Liegestuhl sterben wollte.
Ihre Hand in seiner zog er sie zum Zug, wo er Jury strahlend, Agatha (der die Kinnlade heruntergefallen war) bedenklich und Vivian, die mittlerweile in ihrem Abteil war, unschlüssig anlächelte. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt.
Sie streckte die schmale Hand aus dem Fenster und ergriff Ellens.
Dann ließ sie diese los, schnappte sich mit einer Hand Melroses und mit der anderen Jurys. Trueblood lief neben einem Gepäckträger her, der das Gepäck zog. Er schwenkte ein Abziehbild der britischen Flagge, lächelte, klebte es mit Schwung auf ihren Koffer und drückte es sorgfältig fest. Dann bedeutete er dem Gepäckträger weiterzumachen und kam zurückgerannt. »Vivilein, Schätzchen! Vorsicht mit den Kanälen, Obacht im Keller der Gioppinos ... ach ja, der Graf trinkt ja gar keinen Wein, nicht ... aaauuu!« (Vivian hatte mit ihrem Taschenbuch nach ihm geworfen.) »Mein liebstes, bestes Vivilein. Kein Wort kommt mehr über meine Lip... Lieber Gott, er fährt, er fährt!«
Kein Wort mehr, nein. Melrose sah dem entschwindenden Gepäckwagen nach. Da klebte die britische Flagge! Und gleich daneben steckte der Dracula aus dem Ausschneidebogen und gondelte in seiner Gondel dahin. Melrose schloß die Augen.
»Und keine Dummheiten, Vivian!« Das waren Agathas letzte Worte. »Aufgepaßt bei den Gondolieri! Können Sie überhaupt Italienisch?«
»Arrivederci, das ist so ungefähr alles.« Sie wischte sich die Tränen ab, die ihr langsam übers Gesicht rannen.
Melrose und Jury hielten immer noch ihre Hände, liefen jetzt aber schon neben dem Zug her, bis dieser so beschleunigte, daß sie loslassen mußten.
Abschiedsgrüße wurden hin- und hergerufen, flogen die Gleise entlang, bis sich der Zug ins rußige Licht eines Londoner Januartages
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