Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Geistesgestörtheit.«
    Eine fieberhafte Röte stieg ihr vom Hals ins Gesicht, und ihre kühle Haut wirkte auf einmal fleckig. Doch der Grund für ihre Reaktion schien keineswegs Verlegenheit zu sein. Es zuckte um ihre Mundwinkel.
    Wie gern hätte Jury sie durchgeschüttelt, damit sie endlich aus ihrer nonnenhaften Gleichmut und ihrer Schicksalsergebenheit aufwachte. Warum machte sie sein Auftauchen nicht zornig oder zumindest gereizt? Sie schien es nicht einmal zu stören. Er bohrte weiter. »Nach acht Jahren dürfte es ziemlich schwerfallen, das zu beweisen.«
    Nach einer Weile sagte sie: »Schon möglich.«
    Die Feststellung klang so nüchtern und realistisch, daß es ihr wirklich einerlei sein mußte, was aus ihr wurde. Jetzt hatte sie die Hände auf dem Rücken gefaltet; die Augen hielt sie fest auf das Ende des Weges gerichtet. Hinter dem Tor gab es einen kargen, kleinen Obstgarten mit gekappten Bäumen, aus deren Stämmen knorrige Äste mit dünnen Zweigen wuchsen. Im Sommer mochte er anders aussehen, und die Bäume mochten Kinder verlocken, hochzuklettern und sich Obst zu pflücken.
    »Hat Ihr Sohn hier gespielt?«
    »Ja.« Sie brauchte einen Moment, bis sie hinzusetzte: »Mit Toby.«
    Eigenartig, aber sie sagte nur den Vornamen, so als stünde unausgesprochen fest, daß er über Toby Bescheid wußte.
    »Toby Holt.«
    Nell zog den Pullover noch enger um sich und nickte. »Sie waren gute Freunde, was eigenartig ist, wenn man bedenkt, daß Billy zwölf und Toby fast sechzehn war. Mit fünfzehn, da ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich glaube, er hat Billy richtig bewundert. Natürlich wirkte Billy älter, das kam wohl durch die Musik. Er war ein Wunderkind, konnte wirklich alles spielen. Der arme Toby. Er hat sich soviel Mühe gegeben, aber er konnte kaum auf dem Kamm blasen. Und Abby; die beiden haben sich doch tatsächlich mit Abby abgegeben. Und die war erst drei. Wie geht es ihr? Und den Holts? Haben Sie schon mit den Holts gesprochen? Wie sie wohl ohne ihn zurechtkommen?«
    Sie schaute kopfschüttelnd zu Boden. Schaute und schüttelte den Kopf, als ob das alles ein Rätsel für sie wäre, ein Geheimnis, das sie einfach nicht ergründen konnte. Wie seltsam, daß sie sich um die Holts sorgte, sich fragte, >wie sie ohne ihn zurechtkamen<, so als wäre er gerade vor einer Woche gestorben.
    Für sie schien festzustehen, daß er Abby - wer auch immer das war -, daß er die Holts aufsuchen würde. Er war überzeugt, daß sie in diesem Augenblick nicht den Polizisten in ihm sah; vielleicht sah sie ihn überhaupt nicht. Eher redete sie mit sich selbst. Aber wenigstens redete sie.
    Jury war ganz sicher, daß sie hinter der verfallenen Mauer den Geist Billy Healeys sah, wie er auf einen Baum kletterte. Und als er sie wieder ansah, da erschien sie ihm wie der Obstgarten selber, verwittert, dünner, mehr nach innen gewandt. Sogar ihr glatter Teint wies jetzt winzige Fältchen auf, glich krakeliertem Porzellan. Sie hatte einen kleinen Gedichtband aus der Tasche gezogen, und ihre Finger, die ihm jetzt skelettartig vorkamen, drehten ihn hin und her, hin und her.
    »Er sieht aus -« und dabei deutete sie mit dem Kopf auf die eher niedrigen Baumreihen des Obstgartens -, »als ob er völlig verfroren wäre. Aber er schläft nur. Ein plötzlicher Wärmeeinbruch wäre gefährlich, wenn nicht tödlich für ihn.« Sie schwieg. »Das weiß ich aus einem Gedicht, in dem jemand seinen Obstgarten betrachtet und zu ihm sagt: >Leb wohl und bleib kalt.<«
    »Der Gedanke scheint tröstlich für Sie zu sein.« Ein kühler Wind war aufgekommen, wirbelte ein paar knisternde Blätter auf, zerrte an ihrem mit einem Perlmuttkamm festgesteckten Haar und wehte ihr Strähnen ins Gesicht.
    »Mögen Sie Gedichte?« fragte Jury.
    »Ja.« Seine Augen hingen an ihren Händen, die das Haar zurückstrichen und wieder feststeckten. Jetzt wirkte sie überaus jung. »Ja, denn auf ihre Sprache ist Verlaß. Ich kann Gerede nicht ausstehen.«
    Jury lächelte. »Was Sie mehr als deutlich klarmachen. Das einzige, was bei Ihnen klar ist.« Falls er gehofft hatte, sie damit aus der Reserve zu locken, so täuschte er sich. Sie verfolgte ihren eigenen Gedanken.
    »Worte sind wie ein Schleier. Halb durchsichtig, leicht zu zerreißen, immer zerfranst.« Ein verhaltenes Lächeln, als müßte sie es erst probieren. Anscheinend freute es sie, daß sie ihre Meinung gesagt hatte.
    »Vielleicht haben Sie recht, aber was haben wir denn sonst, und wer von uns ist

Weitere Kostenlose Bücher