Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
ihn erschossen. Peng!«
»Ethel!«
Selbst Melrose hätte gezögert fortzufahren, wenn man ihn so angeblickt hätte, aber Ethel war wild entschlossen, Salz und Pfeffer in diese Wunde zu streuen.
»Wir dürfen nicht darüber sprechen.« Abbys Stimme klang ruhig, aber ihr Blick hätte einen Menschen zu Stein verwandeln können.
»Diese Missus Healey ist doch deine Freundin.«
Melrose merkte, daß Ethel, dieses angebliche Unschuldslamm, trotz ihrer ganzen Rüschen und Grübchen und Bänder eine kleine Hexe war.
»Und sie darf nicht mehr herkommen. Weil deine Tante sie nicht läßt.«
Das wurde mit gehässiger Stimme intoniert. Ethel fuhr schwere Geschütze auf. »Und wer hat denn hier Fotos von toten Leuten?« Dabei deutete sie mit dem Kopf auf die Kiste mit den Büchern. »Ich hab sie alle gesehen. Du hast Fotos von dem kleinen Jungen, von Billy, und von seinem Freund.« Als Abby darauf nicht reagierte, sagte sie: »Schlechte Menschen sind das, sagt meine Mum. Sie sagt, sie haben den kleinen Billy einfach umkommen lassen. Ich hab alle Fotos gesehen, von dir und ihm und dem anderen, diesem Tony.«
»Toby.« Die Berichtigung klang automatisch und schien weder aus Abbys Kopf noch aus ihrem Mund zu kommen.
Melrose unterbrach sie. »Ich finde, du solltest nicht über Dinge reden, von denen du nichts verstehst.« Er schob seinen Stuhl zurück, sah Abby an und überlegte, ob sie wohl eine Art Magnet für negative planetarische Wellen war. Seit ihrer ersten Begegnung schien sie dauernd in Schwierigkeiten zu sein.
»Geh nach Haus«, sagte Abby.
»Wir wollten Beerdigung spielen. Du hast es versprochen.«
Und jetzt bemerkte Melrose neben dem Bett den kleinen Karton mit einem schwarzen Tuch darüber. An einem Ende stand eine Kerze. Buster. Melrose wandte den Blick ab.
Abby wiederholte nur: »Geh nach Haus.«
»Aber wir müssen Buster beerdigen! Oder soll sie dir die ganze Scheune verstänkern?«
Das mußte bald der Fall sein, dachte Melrose, schließlich stand Buster schon vierundzwanzig Stunden da.
»Geh nach Haus«, sagte Abby noch einmal mit der gleichen ausdruckslosen Stimme.
Ethel stand hocherhobenen Hauptes auf, womit sie wohl andeuten wollte, daß es ihr einerlei war, ob sie blieb oder ging. Aber als sie sich im Hinausgehen ihren Mantel anzog, schoß sie den allerletzten Pfeil ab.
»Und wenn es keinen Himmel gibt und wir einfach so rumgeistern, wo ist dann deine Mutter, kannst du mir das
sagen?«
Abby hob den Blick zu dem alten Gebälk des Daches. »Bei Ricky Nelson.«
Zweiter Teil - Der Sommerkönig
Kein Fall, den Macalvie bearbeitete, war ein hoffnungsloser Fall; wohingegen er viele seiner Untergebenen dafür hielt.
Viele, jedoch nicht alle. Die weibliche Stimme, die aus dem Laboratorium der Gerichtsmedizin am Ende des Ganges drang, gehörte Gilly Thwaite.
Als Macalvie Jury an der Tür sah, bedeutete er ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung hereinzukommen, so als wäre Jury ein längst überfälliger Schiedsrichter.
Nicht etwa, daß Macalvie einen gebraucht hätte, o nein. Er stand da, wie man es von ihm kannte, die Hände in den Hosentaschen, den Regenmantel, mit dem er vermutlich auch ins Bett ging, zurückgeschoben, und kaute Kaugummi in einem Tempo, das durchaus mit Gilly Thwaites Mundwerk mithalten konnte. Die machte ihm über den Seziertisch hinweg Druck.
Jury setzte sich auf einen weißen, emaillierten Klappstuhl, kippelte und beobachtete Macalvie, der nicht wich und nicht wankte. Sie bearbeiteten zusammen einen Fall, und Gilly wollte ihn mit Fingerabdrücken (oder vielmehr deren Fehlen) in die Knie zwingen.
»... keine vollständigen, keine partiellen, Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Und das zum sechstenmal, verdammt und zugenäht. Nichts!« Ihre schwere, schwarzgeränderte Brille ähnelte einer Schutzbrille und verdeckte die Hälfte ihres kleinen, spitzen Gesichtes.
Gilly Thwaite war gereizter als üblich, dachte Jury. Sie wußte natürlich, daß die sogenannte Arroganz des Chief Superintendent eher schlichtes Vertrauen darauf war, daß er in neunzig Prozent aller Fälle recht hätte - und das hatte er auch. Macalvie kalkulierte allerdings einen gewissen Spielraum für Irrtümer und Naturkatastrophen ein: Der Dart konnte über die Ufer treten oder die Kathedrale von Exeter einfallen, die Küste von Devon und Cornwall verschwinden oder - schlimmer noch - man konnte ihm Informationen vorenthalten. Deshalb war Gilly Thwaite in Verteidigungsstellung. Sie argwöhnte, dachte Jury, daß
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