Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
hingehen konnte, überlegt, wer bei ihm bleiben würde. Er hat sie gefunden -«
»Ich weiß.« Jurys Ton war so scharf, daß der Inspector sich im Stuhl zurücksetzte. Leiser sagte Jury: »Ich habe ihren Sohn nie kennengelernt. Aber nach allem, was Jane von ihm erzählt hat, muß er eine blühende Phantasie haben.« Jetzt lächelte er frei heraus. »Durch das Oberlicht in der Toilette? Und Sie konnten ihn nicht finden?«
Kamirs Lächeln war dünn. Dieser Mann lächelte nicht leicht. »Zuerst hat er gesagt, sie hätten keine Verwandten. Dann gab er zu, daß er Großeltern in Cumbria habe.« Kamir blätterte in seinem Notizbuch. »In einem Dorf namens Boone, bei Keswick.«
»Ich bezweifle, daß er dorthin fährt. Er und seine Mutter hatten viel Ärger mit den Großeltern. Sie wollten das Sorgerecht für den Jungen.«
Kamir drehte sich auf dem Stuhl, so daß er sich mit dem Rücken an die Theke lehnen konnte. Er rieb sich die Schulter, als sei er verspannt. »Dann haben Sie keine Idee, wo er sein könnte, Superintendent?«
»Ich habe gerade gesagt - aber Moment mal. Sie meinen doch wohl nicht, ich wüßte es und würde es Ihnen absichtlich verschweigen? Hören Sie, Inspector-«
Kamirs Mund verzog sich wieder zu diesem zaghaften Lächeln.
»Was meinen Sie denn nun?«
Kamir hörte auf, seine Schulter zu kneten, drehte sich wieder um und trank noch einen Schluck Tee, der nun kalt wie Tränen war. »Macht es Ihnen etwas aus, ein paar Polizeifotos anzusehen - von dem Opfer?« Er öffnete den braunen Umschlag.
»Ja.«
Kamir sagte nichts, und nach kurzem Schweigen streckte Jury die Hand aus. Die Luft in dem Café fühlte sich so eisig an, daß er nicht überrascht gewesen wäre, wenn sein Atem wie Dampf vor seinem Mund zu sehen gewesen wäre.
Sie lag auf der Chaiselongue in ihrem Lieblingskleid, wie er wußte. Schwarzer Samt. Er schloß kurz die Augen, löschte das Bild aus und ebenso all die Bilder und Erinnerungen, die dadurch wachgerufen wurden, daß er sie tot in diesem besonderen Kleid sah. Ein Traum, den er immer wieder träumte, kam zurück, von einem schwarzen Schoner, der ein ebenso schwarzes Meer durchschnitt. Das Wasser bildete keine Strudel, schlug keine Wellen und schäumte nicht, sondern sah aus, als würde es mit einer Schere auseinandergeschnitten und schlösse sich dann wieder nahtlos hinter dem Schiff. Mit den Jahren waren die Bullaugen zu Lichtperlen verblaßt, das Licht vom Schatten vertrieben; die im Mondlicht einst gespenstisch weißen Segel waren eingerollt und hatten sich in dunkle Stangen verwandelt, und der Mond war verschwunden. Ein Bild, als seien aus einer Stickerei die Fäden herausgezogen worden und nur der Stoff übriggeblieben.
Jury sagte: »Sie ist angezogen, als ob sie ausgehen wollte.« Mit ausdruckslosem Gesicht gab er die Fotos zurück.
»Ja. Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«
»Es war ihr Lieblingskleid.«
Kamir schwieg, überlegte und sagte dann: »Das erklärt es vielleicht. Es ist nicht ungewöhnlich bei einem Menschen, der ... in so einer psychischen Verfassung . «
Jury wußte, daß Kamir sich taktvoll um das Wort herummogelte. »Bei einem Menschen, der Selbstmord begehen will«, sagte er ganz ruhig.
»Ja. Es ist bekannt, daß solche Menschen gern ... ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll; ich meine nicht, daß sie so schön wie möglich aussehen wollen, aber vielleicht stellen sie sich vor, wie sie gefunden werden, und wollen, daß man sie in Kleidungsstücken sieht, die sie besonders gern mochten. In anderen Worten, für viele gilt eben nicht: schäbiger Bademantel, unfrisiertes Haar. Was manche Leute überraschend finden werden. Warum soll man sich um so etwas noch kümmern, in dem Zustand? Es tut mir leid; Sie wissen, was ich meine.«
»Ja.« Mittlerweile war Lunchzeit, in den Laden mit den frisch zubereiteten Sandwiches, den Gerichten zum Mitnehmen und den milchigen Tees verirrten sich ein paar Kunden. Für Jury sahen sie irgendwie alle gleich aus, übermüdet. Mit leblosen Gesichtern nahmen sie von dem Mädchen hinter dem Tresen Brötchen und Tee in Empfang. Aber sie lenkten ihn von den Hochglanzfotos unter Kamirs Arm ab. Er fand sich schrecklich egoistisch, nur mit sich selbst beschäftigt, und sagte: »Was ist mit ihrem Sohn? Sie wußte nicht, daß er kommen würde. Warum war er da?«
»Ich kann nur annehmen, daß er aus irgendeinem Grund von der Schule nach Hause geschickt wurde.« Kamir zuckte mit den Schultern. »Einfach
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