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Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht

Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hören wollte.
    Nein, dachte Melrose, stotterte eine Antwort und versuchte, wohlwollend dreinzublicken.
    »Wahrscheinlich die am meisten gemalte Ansicht der Seen. Natürlich nur eine Kopie. Aber sie ist ein feines Beispiel aus dieser Schule.«
    Melrose seufzte. »Schulen« und »Genres« hatte er immer mißtraut.
    Das Bild zeigte Berghänge, die warm und braun wie riesige frische Brotlaibe aussahen; sie spiegelten sich in einem glasigen See, der auch nicht natürlicher aussah als die gerundeten Gipfel. Im Vordergrund waren zwei junge Damen, ein Mann, ein Kind und ein Hund, sehr dicht an einer Gruppe von Kühen, die augenscheinlich entschlossen waren, sich häuslich neben ihnen niederzulassen. Diese friedliche Szene wurde von weidenähnlichen Bäumen auf der einen und von einem Boot mit eingerollten Segeln auf der anderen Seite eingerahmt. Das Firmament zeigte sich in verschiedenen Schattierungen von Pastellfarben.
    Daß Crabbe Holdsworth dieses Exemplar englischer Landschaftsmalerei gefiel, war für Melrose ein absolutes Rätsel. Man mußte nur den Constable ansehen, um festzustellen, wie lächerlich der Ibbetson war - wie artifiziell, wie ungeschickt die Perspektivik. Constables Gipfel sahen wie Gipfel aus - gewaltig, einsam, unerreichbar unter einem rauchfarbenen Himmel.
    Es hing auch noch ein Aquarell da, das Melrose recht anständig fand - zumindest war es ehrlich, was man von dem Ibbetson nicht gerade behaupten konnte -, er mußte aber erleben, daß Crabbe Holdsworth ihm mit ein paar Gemeinplätzen heftig widersprach. Er fetzte das Bild förmlich von der Wand. »Mein Cousin Francis hält sich für einen Maler.«
    Das hatte Ibbetson auch getan, also war das kein Argument. Crabbe fuhr fort: »Mein Sohn Graham war ein viel besserer Maler als Francis. Draußen im Pförtnerhaus ist ein kleines Bild, das Graham von Rydal Mount gemalt hat.« Crabbe Holdsworth gestikulierte zur Auffahrt hin. »Vielleicht bringen Sie es mir einmal mit. Ich will Francis schon die ganze Zeit bitten, es hier oben ins Haus zu bringen. Aber er treibt sich mit seinen Staffeleien und Pinseln immer draußen herum.«
    Melrose lächelte. »Das haben Maler so an sich.« - »Bei Wind und Wetter.« Er stöhnte märtyrerhaft, als schleifte der Cousin ihn ständig hinter sich her.
    Während Melrose am Morgen mit den Karteikarten beschäftigt gewesen war, hatten sie über Robert Southey diskutiert - oder besser, Crabbe hatte monologisiert. Mittlerweile fragte sich Melrose, ob er in Wirklichkeit nicht in erster Linie eingestellt worden war, um die Bücher in dieser Bibliothek (die so angenehm nach altem Leder und Bienenwachs roch) zu katalogisieren, sondern um sich von Mr. Holdsworth vollsabbeln zu lassen. Von den Familienmitgliedern hörte ihm nämlich keiner mehr zu.
    So kurz nach dem Tod der Schwiegertochter und dem Verschwinden des Enkels wäre das Southey-Geschwätz jedem anderen wohl kaltherzig vorgekommen. Aber wenn Crabbe von seinem Enkel zu Southey und dem Tod von dessen kleinem Sohn sprach, hielt Melrose das für einen Fall von »Verschiebung«, wie Psychiater sagen würden. Nein, Melrose glaubte nicht, daß der Großvater überhaupt nicht an seinen Enkel dachte.
    »Ich habe immer gefunden, daß Southey ein unterschätzter Dichter ist, Sie nicht auch?«
    »Eigentlich nicht«, erwiderte Melrose und vermerkte den Titel eines Buches auf einer Karteikarte. Seine Karteikarten waren eine bunte Mischung. Die meisten waren angefüllt mit Informationen über die Familie Holdsworth, er schob sie zwischen die anderen, bis er genug für einen »Bericht« an Jury hatte. So erweckte er den Anschein, als katalogisiere er, während er kaum etwas anderes tat, als sich Notizen über die laufenden Ereignisse zu machen. Die Karten steckten entweder in seinen Taschen oder waren im Schreibtisch verschlossen. Keiner fragte danach, und er zweifelte, ob es überhaupt jemanden interessierte. Seine Gegenwart hier diente offenbar wirklich dem ausschließlichen Zweck, dem armen alten Crabbe Gesellschaft zu leisten. Der Mann war angenehme, aber dumme Gesellschaft. Seine Frau lauschte seinen Monologen ganz bestimmt nicht mehr. Aber Melroses eigentliches Problem bestand darin, an das örtliche Faxgerät zu kommen, um seine Informationen nach London zu übermitteln. Er seufzte.
    Da seine Kenntnisse über Southeys Familienleben minimal waren, kam er zu dem Schluß, daß es sein Ansehen (wenn auch nicht seine Popularität) nur vergrößern würde, wenn er eine abweichende

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