Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
zuckte mit den Schultern. »Aber schließlich und endlich braucht man ein Motiv, und ich hatte eindeutig keins. Außer vielleicht, daß ich Ginny sehr gern mochte und sie überlegten, ob ich vielleicht aus Eifersucht ... Aber das war natürlich Unsinn.« Fellowes lächelte und paffte vor sich hin.
»Wo ist die Stelle?«
»Sie meinen, wo Virginia den Unfall hatte?«
»Wo Sie das Bild gemalt haben.«
»Auf dem Scafell, ein paar Meter auf der Eskdale-Seite runter. Virginia war wild entschlossen, über den Broad Stand nach Mickledore zu gehen. Das ist die tückische Felswand, die den Weg versperrt. Wenn man die nicht schafft, muß man umkehren und einen anderen Weg gehen.«
Melrose fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er dachte daran, wie sich Alex gestern abend von dem Baum gelöst hatte, fast, als sei er unsichtbar. »Warum wurden Sie denn überhaupt verdächtigt?«
Francis lachte. »Frei nach Hilary: weil ich da war.«
»Das ist doch lächerlich. Jemand anderes hätte doch auch dagewesen sein können.«
»Aber das ist der Punkt: Jemand anderes hätte nicht dagewesen sein können, sonst hätte ich ihn gesehen. Jemand anderes hätte an mir vorbeigehen müssen. Es sei denn, er war ein sehr erfahrener Kletterer.«
Melrose zog die Stirn in Falten. »Wie hätten Sie denn jemanden sehen sollen? Sie haben die Ansicht von Wasdale Head gemalt. Sie hätten ihm den Rücken zugedreht. Es sei denn, er wäre direkt auf dem Berghang gewesen, hier.« Melrose deutete auf das zweite Aquarell.
»Ich habe etwas vergessen; Sie wissen nicht, wie Ibbetson malte.« Francis ging durch die herumliegenden Leinwände, Papiere, Töpfe zu einem reichlich malträtierten Schreibtisch, öffnete eine Schublade und warf Melrose ein handgroßes Ledermäppchen zu. »Das ist ein Claude-Lorrain-Glas.«
Melrose zog aus dem Mäppchen einen kleinen konvexen Spiegel hervor. Er sah Fellowes fragend an.
»Claude Lorrain beeinflußte wie Salvator Rosa eine ganze Schule des Sehens und Malens. Eine der schlimmsten Perversionen des >Sehens<, die mir je untergekommen ist. Es erinnert mich manchmal daran, wie Leute ein Foto >sehen<, das heißt, eine Amateuraufnahme. Ich habe beobachtet, wie Touristen das machen. Knipsen ihre Freunde vor, sagen wir, Dove Cottage und versammeln sich dann, um festzustellen, wie sie auf dem Bild aussehen, anstatt sich das Cottage selbst anzuschauen.«
»Was hat das mit dem hier zu tun?« Melrose hielt den Spiegel hoch.
»Das Gerät war bei Landschaftsmalern sehr beliebt. Man malt, was hinter einem ist, nicht, was vor einem ist. Der Spiegel stellt den Rahmen dar. Claude vertrat die Ansicht, man solle exakt malen, was man sieht. Man dürfe nicht >interpretieren< - obwohl das natürlich unmöglich ist -, sondern nur abmalen, was da ist. Es ist extrem künstlich und einem Spiegelbild verblüffend ähnlich. Ibbetson hatte dieselbe Vorstellung, wenn er ein Bild >einrahmte<, zum Beispiel mit Bäumen. Zusätzlich bringt man noch ein paar stilisierte Menschen und Tiere in idyllische Positur, die erbärmlicher wirken als die Stammgäste im Old Con. Meine Güte, wie oft haben Sie schon mit einer Kuh zusammengesessen?«
Melrose verdrängte den Gedanken an Agatha.
»Sie halten also dieses Claude-Lorrain-Glas in der Hand und sehen das, was hinter Ihnen ist.«
Fellowes nickte. »Ein Dichter wie Wordsworth würde sich im Grabe umdrehen. Für ihn war Wahrnehmen wirklich Erschaffen.« Er klopfte mit seiner Pfeife gegen den Keramikkrug. »Mal Thomas West gelesen?«
»Erstaunlicherweise ja.« Allerdings hatte er seine Neuerwerbung aus dem Wrenn’s Nest noch nicht ausgelesen.
»Dann wissen Sie, daß er fand, Reisen sollten eine Anordnung perfekt arrangierter Bilder oder Szenerien sein. In gewisser Weise ist das der Beginn des Baedeker und dieser ganzen Reiseführer. Man sagt Ihnen genau, was Sie sich ansehen sollen. Die Touristen kommen hierher, um Dove Cottage, Grasmere, Hawkeshead Church, Coniston Water, Ruskins Haus, Beatrix Potters Cottage und so weiter zu besichtigen. Eine Anordnung perfekt arrangierter Bilder. Diese Schule liebt auch gruselige Elemente. Schloßruinen, knorrige Bäume. Wissen Sie, eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen ist Jane Austen, und eine ihrer besten Figuren ist Edward Ferrars, der sich über die Sentimentalität der Heldin lustig macht. >Ich mag keine krummen, kahlen Bäume. Ich mag keine heruntergekommenen, baufälligen Cottages.<« Fellowes lachte.
Melrose dachte einen Moment nach. »Wenn ich zu dem Platz
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