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Grimes, Martha - Mordserfolg

Grimes, Martha - Mordserfolg

Titel: Grimes, Martha - Mordserfolg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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kam: nämlich von Jamie, die es in punkto Produktivität mit einem Karnickel aufnehmen konnte.
    Er las alle ihre Bücher. Etwas anderes konnte er sich auch gar nicht vorstellen, schließlich war er mit ihr befreundet. Und es freute ihn, wenn darin gelegentlich etwas von wirklich guter Schreibkunst aufblitzte, obwohl kein Buch im Ganzen schön geschrieben war.
    Er stand auf, um sich die Zigarettenschatulle zu holen, und trat an den Schreibtisch. Verstohlen blickte er auf das dort liegende Manuskript hinunter, auf die neben einer altersschwachen Olivetti-Schreibmaschine ordentlich gestapelten Seiten. In dem Zimmerchen neben seinem Schlafzimmer oben stand der Computer, den er nur benutzte, um die endgültige Fassung zu tippen. Falls es eine endgültige Fassung gab! Dieses Manuskript hier sah nicht so aus, als würde je eine daraus werden.
    »Kein Ende« konnte bedeuten, dass am Manuskript noch ein Kapitel fehlte, eine Seite oder auch nur ein Absatz. Ein etwas längerer Abschnitt wahrscheinlich. Doch der war nie geschrieben worden. In den unteren Schubladen einer Kommode oben lagen Manuskripte, weitere Manuskripte, von denen jedes irgendeinen entscheidenden Makel hatte (fand Saul). Seinen Freunden gegenüber äußerte er sich darüber nur vage.
    Er betrachtete die Manuskriptseiten neben der Schreibmaschine, auf denen ein Briefbeschwerer aus kobaltblauem Muranoglas ruhte, den er in Venedig erstanden hatte. Ihm gefielen die Farbe und die Eiform. Er hielt die obersten Seiten beisammen, die sonst vielleicht mit einem plötzlichen Windstoß durchs Fenster geflogen wären. Der wachsende Papierstapel verschaffte Saul ein gewisses Gefühl der Genugtuung. Es war ein beachtlicher Stapel, gute fünf bis acht Zentimeter hoch. Nur ein Kapitel würde noch dazukommen, vielleicht lang, wahrscheinlich aber eher kurz. Wieso er das wusste, ohne sich über den Inhalt dieses Kapitels im Klaren zu sein, konnte er nicht sagen. Bloß welcher Art es sein würde, welcher Geist daraus spräche, wusste er. Nur die Wortgestalt kannte er eben nicht. Möglich, dass sich der Schluss im Lauf des Kapitels herausstellen würde. Der Schluss war wohl schon immer da, seit er das erste Kapitel geschrieben hatte. Das Problem war, dass etwas in ihm selbst ihn daran hinderte, das Ende zu sehen.
    Er zog das letzte Blatt hervor und las:
    Der Platz war vollkommen leer bis auf die beiden Katzen, die geschmeidig um den Sockel des Brunnens strichen. Die Frau trat aus dem Dunst über das Kopfsteinpflaster, das nass im Mondlicht glänzte. Sie war nicht in Eile, ihr Gang war selbst zu dieser einsamen nächtlichen Stunde recht gemächlich. Sie war ganz in Schwarz und Weiß gekleidet, ein etwas unheimliches Pendant zu den beiden Katzen, von denen die eine weiß, die andere schwarz war, als hätte ein Fotograf dieses spannungsvolle Arrangement geschaffen. Das venezianische Mondlicht strömte und verebbte in kleinen Wellen, so dass es aussah, als würde die Frau langsam durch einen Fluss aus lauter Licht waten, ein lichtdurchflutetes aqua alta. Wohin ging sie? Diese Frage stellte sie sich selbst. Und warum –?
    Und warum –? Warum –? Saul betrachtete die Stelle, schüttelte den Kopf, legte die Seite wieder in den Stapel zurück und stellte den Briefbeschwerer darauf. Eine Quälerei! Die Form, die er für die gesamte Geschichte gewählt hatte, war quälend und schwierig. Sie bewegte sich rückwärts. Das hieß, er hatte am Ende angefangen, dort, wo man normalerweise das Ende vermuten würde. Die Protagonistin, die in die verwirrendste aller Städte gereist war, nach Venedig, und die sich ihres Zieles so unsicher war, war ursprünglich – jedenfalls hatte es so ausgesehen – eine in sich ruhende, in Kleinstadtleben, Ehe und Kindern fest verankerte Frau gewesen. Dann hatte sich alles umgekehrt.
    Er blickte aus dem Fenster und schenkte sich aus der Flasche, die auf dem Schreibtisch stand, einen Brandy ein. Er dachte über Ned nach. Dabei fragte er sich nicht zum ersten Mal, wieso ihre Freunde bestimmte Eigenschaften eigentlich Saul zuschrieben, die eher zu Ned passten. Zurückgezogenheit, Verletzlichkeit, Selbstvertrauen, die fast naive Verächtlichkeit gegenüber Rezensenten – all das waren Tugenden von Ned (Saul betrachtete es als Tugenden) und nicht seine eigenen. Nein, nicht ihm stand das Oberstübchen im Elfenbeinturm zu, sondern Ned. Wenn er das Ned erzählte, würde der ihn natürlich für verrückt erklären.
    Dazu kam noch die Geschichte mit dem Verlag. Er

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