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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ich kann es nicht tun.«
    »Aber wir müssen einen Weg finden.«
    »Warum müsst ihr das? Lasst die Dinge doch einfach geschehen!« Theodora Zobel klang plötzlich wütend. »Die Bohemia , diese lästige Gesellschaft aus Lügnern, hat solch einen Weg schon vor zweihundert Jahren gefunden. Sie haben uns gejagt und gefoltert, eingesperrt und verdammt.
Dabei war gar nichts vorgefallen; nichts, was diese Übergriffe gerechtfertigt hätte.« Sie starrte ins Feuer, sodass es aussah, als würde es in ihren Augen lodern. »Alle diese vernünftigen Menschen, die ihren Gefühlen nicht mehr trauten. Sie wollten alles um sich herum beherrschen, auch die Natur, doch das funktioniert nicht. Es ist nicht möglich, die Natur zu beherrschen. Allein darüber nachzudenken ist schon verrückt. Wir leben doch mitten in ihr, sind ein Teil von ihr, wie sie auch ein Teil von uns ist.« Sie schaute Jonathan Andersen an. »Die Mythen haben hier seit Anbeginn der Zeit gelebt, und die Menschen haben an sie geglaubt, weil sie für sie Wirklichkeit waren.« Sie wies mit einem ihrer krummen Finger auf das Äffchen. »Sie selbst haben sich eines Wesens aus unserer Mitte angenommen.« Sie lächelte dem Äffchen zu. Edgar krächzte leise und unsicher. »Doch dann«, fuhr sie fort, »kamen die Schergen der Bohemia und töteten die unsrigen. Sie schleppten so viele von uns in die Verbannung. Und warum? Weil sie nicht länger wollten, dass es Rätsel und Geheimnisse gibt. Die Welt sollte geordnet sein, klar und von der Wissenschaft durchleuchtet. Wer braucht schon Wunder, wenn er der Medizin huldigt? Wer braucht Träume, wenn er sich selbst alle Wünsche erfüllen kann?« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Holztisch, richtig ärgerlich und frustriert. »Nur Straßen, wohin man blickt, aber kein Wald mehr. Nur Pfade, wo vorher Bäume ihre Wurzeln ausgestreckt haben.«
    »Aber die Kinder«, betonte Vesper, »was wird mit ihnen geschehen?«

    Theodora Zobel seufzte. Dann schlurfte sie zu einem der Regale und zog ein mächtiges Buch heraus. Ganz schwer war es, mit einem Einband voller Ornamente, die wie ein Mund anmuteten. »Die Kinder«, sagte sie, »trugen schon immer all das Leid. Denn sie waren auch früher schon diejenigen, die glaubten. Und der Glaube ist so mächtig wie das Schwert.«
    Sie schlug das Buch auf. »Sagt, kennt ihr die Geschichte vom Erlkönig und der Maikönigin?«
    Alle drei schüttelten den Kopf. »Nein.«
    Theodora Zobel blätterte die Seiten um, die dick und fest waren. Das ganze Buch atmete förmlich Staub und Zeit, wenn sie die Seiten umschlug. Sogar die Buchstaben waren groß und geschwungen, als habe jemand jeden Einzelnen von ihnen mit großer Sorgfalt zu Papier gebracht.
    »Es war einmal«, begann sie, »vor langer, langer Zeit.«
    Da lebte in den tiefen Wäldern, die sich über das ganze Land erstreckten, eine wunderschöne Frau, die von allen Wesen nur die Maikönigin genannt wurde, denn wo sie war, da blühte das Leben. Sie hatte ein Lächeln, das jeden verzaubern konnte, der sie auch nur im Vorübergehen kurz ansah. Ihre Untertanen liebten sie, und das Königreich war eines der angesehensten in der Welt.
    »Dann, eines Tages, ging sie allein hinab zum Fluss, um zu baden.«
    Sie tauchte in das klare Wasser ein und schwamm wie eine Forelle darin herum. Ihr Körper war eins mit dem Fluss, und die Sonne brach sich gülden in ihrem Haar, das lang und geschmeidig war wie ihr Lachen, wenn es über die weiten Wiesen flog wie die Schmetterlinge.

    »Sie konnte nicht wissen«, erzählte Theodora Zobel, »dass der Erlkönig, dem dieser Teil des Waldes untertan war, sie von seinem geheimen Versteck im Gebüsch aus erblickte und sein Herz an sie verlor.«
    »Was hat er getan?«, wollte Vesper wissen.
    »Er gab sich zu erkennen und geleitete sie nach Hause.«
    Sie waren sehr verliebt, und in den Tagen und Monaten, die kamen, konnte niemand sie mehr trennen.
    »Doch dann kamen Schatten über das Land.«
    Die Menschen trachteten den Mythen nach dem Leben. Von überallher trafen Kundschafter ein, die davon berichteten, dass Mythen verschleppt worden waren. Die Menschen wollten nicht mehr länger in Eintracht mit den Mythen leben. Sie huldigten nicht länger der Natur. Sie holzten die Wälder ab und verdammten alles Leben darin zu kummervoller Wanderschaft in der Fremde. Sie entrissen sogar dem Boden selbst die Erze, die den Zwergen seit jeher ihr Ein und Alles waren. Sie töteten Einhörner und jagten die Wandler. Alles, was einst

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