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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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war, wurde unter ihrem Zugriff grau und fad.
    »So kam es, dass der Erlkönig in den Krieg zog.«
    Die Maikönigin sah ihm nach, als er sie verließ, und sie weinte bittere Tränen des Schmerzes.
    Die Zeit verging. Die Mythen verschwanden nach und nach aus dem Land, niemand wusste, wo sie waren. Die Maikönigin war allein in ihrem Schloss. Nur wenige Diener waren ihr geblieben, alle anderen waren in den Krieg gezogen, der lange schon dauerte und noch lange nicht enden wollte.
    »Ihr Lächeln verlor an Kraft, ihr Gesang an Lieblichkeit.« Die Schlachtfelder erstreckten sich über die ganze Alte Welt. Sie nahmen ganzen Landstrichen die Farbe. Die Jahreszeiten selbst
waren auf der Flucht. Der Herbst war noch da, ebenso der Winter. Doch Sommer und Frühling hatten verlernt, wie man sich die strahlende Sonne und eine unermessliche Blütenpracht zaubert, und so waren sie verstummt und heimlich entschwunden.
    »Manche glaubten sogar, dass die Menschen die beiden Jahreszeiten auf dem Gewissen hatten.«
    Die Worte der Hexe schwebten durch die warme Luft wie dunkles Holz und ließen Vesper dennoch frösteln.
    »Und dann«, fuhr Theodora Zobel fort, »geschah ein Unglück.«
    Eines Abends traf eine Nachricht im Schloss der Maikönigin ein, die sie erbeben ließ. Man sagte ihr, dass der Feind den Erlkönig gefangen genommen habe. Sein gewaltiges Heer sei geschlagen und er selbst schwer verletzt worden.
    »Die Maikönigin war untröstlich, weinte, verfluchte die Menschen.«
    Die Kundschafter berichteten ihr weiter, man habe den Erlkönig auf ein Schiff gebracht. Sie hätten ihn außer Landes geschafft, an einen Ort, weit, weit entfernt. Ewiges Eis sollte es dort geben und Tiere, die außer Weiß keine Farbe besäßen, und inmitten dieses Eismeeres gebe es eine Festung, gewaltig und verborgen vor den Augen der Welt, und in dieser uneinnehmbaren Festung mitten in diesem Eismeer, da hielten sie ihn gefangen.
    Die Maikönigin schrie und tobte.
    »Ihr Herz wurde zu Eis, und ihre Augen wurden blind vor Hass.«
    Die Blumen in ihrem Reich begannen zu verwelken, die Bäume wurden ihrer Blätter beraubt, und so wurde auch noch der Herbst in die Flucht geschlagen, und es kam ewiger Winter über das Land.

    »Sie wurde zu einer Schneekönigin, in deren Land niemals mehr Sommer herrschte noch Frühling oder Herbst.«
    Mit der letzten Magie, die ihr verblieben war, versiegelte sie ihr Reich. All das, was sie war, flüchtete hinter das Eis ihrer Augen, das wie Spiegel war.
    »Die Jahre vergingen, und wie man weiß, vergehen sie hinter dem Spiegel in anderer Art und Weise als in der Welt vor dem Spiegel.«
    Draußen, in der anderen Welt, töteten die Menschen indes die Mythen, derer sie habhaft werden konnten. Die anderen, denen die Flucht gelang, lebten fortan in den Wintergefilden der traurigen Schneekönigin. Dort waren sie sicher, verborgen an einem Ort, der mitten in der anderen Wirklichkeit einen Unterschlupf gefunden hatte.
    »Doch gab es immer wieder Mythen unter ihnen, die sich nach den Jahreszeiten sehnten.«
    Sie wurden krank im ewigen Winter und hatten keine Wahl. Sie gingen nach draußen.
    »Was geschah mit der Schneekönigin?«, wollte Vesper wissen.
    »Ihr Herz wurde vollends zu Eis.«
    Und sie hasste alle Wesen, die nicht in ihrem Winterland lebten.
    »Doch dann«, sagte Theodora mit erhobenem Zeigefinger, »dann wagten die Menschen einen letzten Vorstoß und drangen tief ins bitterkalte Winterland hinter den Spiegeln ein. Sie töteten viele der Mythen, die dort lebten und sich versteckt hielten. Nur ins Schloss der Schneekönigin konnten sie nicht vordringen.«
    »Wie gelang es ihnen, dorthin zu kommen?«

    »Ins Winterland hinter den Spiegeln?«
    »Ja.«
    Sie seufzte. Ihr langer Fingernagel kratzte über das Papier des Buches. »Man sagt, dass der Erlkönig die seinen verraten hat.«
    »Sie meinen, er hat der Bohemia geholfen, die Mythen zu jagen?« Aber war er denn nicht in der Festung im Eismeer gefangen?
    Theodora Zobel nickte. »So wird es erzählt.«
    Das Schiff, auf dem man ihn verschleppt hatte, kehrte nicht wieder aus dem Eismeer zurück, wohl aber der Mann, der es befehligt hatte.
    »Alexander von Humboldt.«
    »Ja, und er brachte magische Steine mit.«
    Vesper berührte den grünen Stein an ihrem Ring. Theodora Zobel war nicht entgangen, dass sie den Ring mit dem Stein besaß, aber sie schwieg, ließ Vesper nur mit Blicken wissen, dass sie ihn bemerkt hatte.
    »Mithilfe der Steine«, sagte sie stattdessen, »konnten

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