Grimm - Roman
langsamer.
»Jungs«, murmelte Vesper und warf einen Blick in den schmalen Spiegel an der Sonnenschutzklappe.
Leander, dem die Geste nicht entgangen war, konterte mit: »Mädchen.«
So verließen sie Blankenese.
Während der weiteren Fahrt schwieg Leander sich aus, und Vesper schaute nach draußen, wo es langsam Abend wurde und die vielen grellen Scheinwerfer der anderen Autos kaum mehr als einsam verlassene Inseln in der aufkommenden Dunkelheit waren.
»Wo fährst du hin?« Nur diese Frage, sonst nichts. Vesper war müde, und ihre Gedanken verlangten nach einigen Augenblicken der Ruhe. Es war definitiv zu viel geschehen.
»Zurück nach Hamburg.«
Sie nickte nur, erschöpft und matt. Zurück nach Hamburg zu fahren war gut; etwas Besseres fiel ihr auch nicht ein. Sie mussten irgendwo die Nacht verbringen und schlafen, wieder zu Kräften kommen, sich ausruhen und nachdenken, wie sie die nächsten Tage überleben sollten.
»Willst du reden?«, fragte er schließlich, nachdem das beidseitige Schweigen zu laut geworden war.
»Nein«, sagte sie. »Später vielleicht.« Dann legte sie kurz die Hand auf sein Bein, nahm sie aber sofort wieder fort, als ihr einfiel, dass sie sich ja noch nicht so gut kannten - was sie irgendwie vergessen hatte.
Er schaute nicht zur Seite. Sagte aber: »Gut, mir geht es ähnlich.« Und konzentrierte sich erneut auf den Verkehr.
Vesper indes schloss die Augen und ließ sich in Gedanken treiben. Sie dachte an die düsteren Märchen, die ihr Vater ihr früher so oft erzählt hatte. An die Abende, die viel zu kurz gewesen waren. An Margo, die für ihre Töchter Klavier gespielt und manchmal, wenn sie guter Laune gewesen war, auch dazu gesungen hatte. An das schöne Leben, das so schnell vorbei sein konnte, und die Momente, die auf ewig wie Reue bei einem blieben. Das Surren des Motors in der anbrechenden Dunkelheit war angenehm, wie ein leises Schlaflied, nur anders und nicht so warm. Sie erinnerte sich an die Stimme ihrer Schwester, die sie so oft auf Reisen in ferne Märchenländer entführt hatte.
Amalia, deren Gesicht sie noch immer so vor sich sah, als sei es ihr niemals genommen worden.
Vesper öffnete die Augen, blickte nach draußen.
Die Welt war so groß, und sie war mitten in ihr, allein und verloren. Ihr altes Leben war endgültig vorbei. Sie war auf der Flucht. Etwas ging da draußen vor, und das Gefühl, dass das alles etwas mit ihr zu tun hatte, ließ sich immer weniger leugnen.
Mit den flachen Händen massierte sie ihre Schläfen. Kopfschmerzen hatte sie schon als Kind bekommen, meist dann, wenn sie das Gefühl beschlichen hatte, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren.
Sie wurde unruhig.
Und die Unruhe vertrieb die Müdigkeit, die wie ein Nebel um ihr Innerstes schlich.
Nachdem sie zehn Minuten ohne ein Wort zu wechseln gefahren waren, brach Vesper das Schweigen. »Ich glaube, ich möchte jetzt doch reden«, sagte sie leise und schaute Leander von der Seite an. Die wilden Haare, die eine Tolle nur noch erahnen ließen, sahen mittlerweile aus wie der dunkelste Albtraum eines Friseurs.
»Worüber?« Er wirkte ebenfalls erschöpft. Seine Augen waren klein und ein wenig von dunklen Schatten umrankt. Er hatte eine Brille mit schwarzem Gestell aus der Tasche gezaubert.
»Über uns?« Eigentlich war es keine Frage.
Leander, mit einem Mal erwacht, grinste frech. »Findest du nicht, das ist ein wenig früh?«
Sie konnte nicht anders und musste das Grinsen erwidern. »Du weißt, was ich meine.«
»Ja, ja, natürlich.« Er nickte emsig. »Das Leben, die Welt, wir beide und natürlich unsere Zukunft.« Er sah sie an. Die Brille machte ihn intelligenter. »Die Beziehung, die wir führen werden. Die Kinder, die wir haben werden, all so was. Dachtest du daran?«
Sie rollte mit den Augen. »Klar, an was sonst?«
Sie mussten beide lachen, erst leise, dann laut schallend. Es war, als fiele all die dumpfe Furcht und klammernde Anspannung von ihnen ab. Lachen tat gut, sie sollten es öfter tun.
»Nur …«
Sie sah ihn an. »Nur - was?«
»Wir haben vergessen, uns richtig kennenzulernen.«
»Ach ja?«
»Ja.« Er nickte eifrig. »Man sieht sich, spricht einander an, führt Smalltalk, trinkt Kaffee. Normalerweise lernt man sich zwanglos kennen, gewinnt allererste flüchtige Einblicke in das Leben des anderen. Und so weiter und so weiter. Na ja, du kennst das bestimmt.« Er holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand durch das wilde Haar. »Das haben wir irgendwie
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