Grimm - Roman
Altona. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, ja. Es muss eine Verbindung geben.«
»Die Bohemia «, sagte Vesper schnell. »Vielleicht waren unsere Väter beide Mitglieder in dieser Gesellschaft.« Irgendwie schien das durchaus wahrscheinlich zu sein, oder etwa nicht?!
»Hat Coppelius dir gesagt, was genau die Bohemia ist?«
»Nein, dazu kam er nicht mehr.«
»Der Menschenwolf glaubt aber, dass es hier in Hamburg ein Refugium gibt.«
»So eine Art Stützpunkt.«
»Und Coppelius kannte diesen Ort womöglich.«
»Er wusste um die Schlüssel.«
»Die Schlüssel, die wir bei uns tragen.«
»Ich glaube, dass er ziemlich genau Bescheid wusste.«
»Und nicht alles preisgeben wollte?«
Sie nickte. »Wie auch immer, wir haben die Schlüssel.«
»Und die Schlüssel sollten uns das Refugium öffnen. Was auch immer das zu bedeuten hat.«
»Sieht wohl so aus.«
»Und? Macht uns dieses Wissen jetzt schlauer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
Leander bremste plötzlich unsanft ab. Vor ihnen begann sich der Verkehr zu stauen. Es waren blinkende Blaulichter zu erkennen, irgendwo weiter vorn.
»Wer, glaubst du, war der Fremde, der uns geholfen hat?«
»Ich habe ihn bereits mehrmals gesehen«, gestand Vesper. Sie berichtete Leander von den kurzen und seltsamen Begegnungen in der Nacht und am Hafen. »Ich dachte, dass er mir Böses will. Dass er vielleicht der Menschenwolf ist. Oder sonst wer, jedenfalls keiner der Guten.«
»Er hat das Gegenteil noch nicht bewiesen.«
»Er hat uns gerettet.«
»Er hat uns den Wagen überlassen, das ist ein Unterschied. Mittlerweile traue ich keinem mehr.«
»Auch mir nicht?«
»Dir schon.«
»Könnte ein Fehler sein.«
»Fehler sind dazu da, dass man sie macht.« Er zwinkerte ihr zu. »Apfel?«, fragte er, zauberte einen aus seiner Manteltasche und reichte ihn ihr.
Sie nahm den roten Apfel und biss hinein. Das Fruchtfleisch war saftig und süß.
»Lecker, nicht wahr?«
Sie grinste in sich hinein.
Und schwieg.
Die Fahrzeuge vor ihnen setzten sich wieder in Bewegung, der Stau löste sich langsam auf. Was eigentlich los
gewesen war, konnte Vesper nicht erkennen, als sie die Stelle des Unfalls passierten.
Der Range Rover suchte sich quälend langsam seinen Weg durch den weiterhin dichten Verkehr.
Sie waren jetzt endlich mitten in Hamburg angekommen, ließen die Straßen von Altona hinter sich und fuhren nach St. Pauli hinein. Sofort wurde es laut und bunt.
Draußen zog die Reeperbahn mit ihren schillernden, windige Wunder und heiße Erlebnisse versprechenden Leuchtreklamen vorbei. Menschen eilten auf den Gehwegen entlang, die Gesichter hinter Schals verborgen, die Schultern hochgezogen in der Kälte, die nach Salz und der nahen Nordsee roch. An den Ecken und in den Eingängen der Etablissements standen leichte Mädchen auf der Suche nach einem Freier oder Kundschaft für die Show.
Schließlich bog der Wagen in die Helgoländer Allee ein. Die kahlen Bäume, die vereinsamt und wie tot den alten Elbpark säumten, ließen Vesper eisig erschaudern. Unheil lag hier in der Luft, das konnte sie selbst hinter den getönten Scheiben des Wagens spüren.
»Wo wohnst du?«, fragte Leander.
»Ich kann nicht nach Hause. Der Menschenwolf weiß, wo ich wohne.«
»Dann kommst du mit zu mir.«
Vesper wusste nicht, ob sie sich über dieses Maß an Entschlossenheit seinerseits freuen oder ob sie verärgert sein sollte. »Und wo ist das?«
»Auf einem Schiff.«
Sie starrte ihn überrascht an. »Einem Schiff?« Sie gestand sich ein, dass sie sich freute.
»Nun ja, ich dachte, dass ich wenigstens stilecht wohnen will, wenn ich schon nach Hamburg komme.«
»Bist du reich?«
Er lachte, wurde ernst. »Ja«, sagte er.
»Sagtest du nicht, du bist Student?«
»Sagte ich.«
»Und?«
»Ich bin jetzt ein reicher Student.«
Vor ihnen erschienen die Landungsbrücken mit der Hochbahn. Vesper konnte in der Ferne die hohen Masten der Rickmer Rickmers erkennen.
»Kein Scheiß?«
»Seit gestern bin ich reich.« Er meinte es ernst. »Und du, Vesper Gold, bist es vermutlich auch.«
»Wie meinst du das?«
»Mein Vater hat mir eine hohe Geldsumme überwiesen. Eine außerordentlich hohe Geldsumme. Wohlgemerkt, das alles noch vor seinem zufälligen Unfall. Ich habe keine Ahnung, wie er zu diesem Vermögen gekommen ist, aber der Betrag ist auf meinem Konto aufgetaucht.«
Sie starrte ihn verdutzt an. »Und du glaubst …« Nein, sie wollte es gar nicht erst aussprechen.
»Dein Vater
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