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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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wollen, hat er nicht gesagt?«
    »Er kam nicht mehr dazu.«
    »Wie war er denn so?«

    »Ich habe ihn nur kurz gekannt. Nett, irgendwie. Ein alter Herr.«
    Leander schaute wachsam in den Rückspiegel. »Immerhin sind sie noch in unserem Besitz. Das ist doch das Wichtigste. Sie wollen sie haben, wir besitzen sie.«
    Zur Rechten der Straße zog die eisige Elbe vorbei. Die Positionslichter der Schiffe darauf waren wie Sternfunkeln in dieser kalten Nacht. Einsame Reisende, mit unbestimmtem Ziel, die offene See noch vor sich, mit all den Stürmen, die da kommen mochten.
    »Mein Vater hat mir die Uhr und den Schlüssel bis nach England geschickt«, gestand Leander nachdenklich. »Nur einen Tag nach seinem Unfall erreichte mich bereits der Brief, der die Gegenstände enthielt. Dazu nur ein kurzer Hinweis, mich vor den Wölfen in Acht zu nehmen.«
    Das auch? »Und die Anweisung, Friedrich Coppelius aufzusuchen?«
    »Ja.«
    Vesper sagte: »Wie bei mir.«
    »Es gibt keine Zufälle, oder?!«
    »Und das Treffen im Museum?«
    »Nein, das war wirklich ein reiner Zufall. Ich wollte bloß Das Eismeer anschauen«, erklärte er.
    »Warum?« Er kam mit dem Flugzeug nach Hamburg, und das Erste, was er tat, war, sich das Gemälde anzuschauen?
    »Mein Vater hat das Bild sehr gemocht. Es hing in seinem Arbeitszimmer. Dabei hat er überhaupt nichts für die Malerei empfunden. Aber dieses eine Gemälde war
die große Ausnahme. Und, na ja, deswegen dachte ich, dass ich mir, wenn ich schon nach Hamburg reise, genauso gut das Original anschauen kann.« Seine langen Finger spielten unruhig am Lenkrad herum. »Ich musste es tun, verstehst du?«
    »Ja.« Auch in Friedrich Coppelius’ Behausung hatte sich ein Kunstdruck des Gemäldes befunden. »Bei mir war es genauso.«
    »Du hast dir das Gemälde anschauen wollen, weil es dich an deinen Vater erinnert?«
    »Ja.«
    Er schaute sie an. »Ziemlich viele Zufälle, was?«
    Sie wusste, was er meinte. »Ja«, sagte sie nur. Wie viele Menschen mochte es wohl geben, für die Das Eismeer das faszinierendste Gemälde der Welt war?
    »Und warum hast du mich angesprochen?«
    »Du hast es ebenfalls betrachtet. Außerdem bist du hübsch. Ich wollte den Augenblick nicht verstreichen lassen.«
    »Und jetzt?«
    Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Du bist immer noch hübsch.«
    Sie lachte. »Ist das deine Masche?«
    »Ich habe keine Masche.«
    »Dann ist deine Masche also, keine Masche zu haben.«
    Er überlegte. »Ja, vielleicht.«
    Vor ihnen tauchte Hamburg auf. Das Licht vieler Laternen erhellte die Nacht.
    »Mein Vater hat dieses seltsam hässliche Gemälde wirklich geliebt«, sagte er und verbesserte sich sogleich: »Nun
ja, es ist vielleicht nicht unbedingt hässlich. Es ist kalt. Ich mag es nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich es betrachte. Deswegen war ich froh, es nicht allein betrachten zu müssen.« Er seufzte, kratzte sich am Ohr. »Das ergibt möglicherweise keinen Sinn, aber so war es.« Er wartete auf eine Antwort, aber Vesper sagte nichts. »Na ja, mein Vater hat es auch nicht unbedingt geliebt. Aber er war fasziniert davon. Ja, das war er. Er sagte immer, dass jedes Gemälde eine Geschichte zu erzählen habe und dass dieses Bild von einem Ereignis berichte, das von überragender Bedeutung für die Menschheit gewesen sei.«
    »Sagte er das?« Vesper horchte auf.
    Leander nickte. »Ja, er war davon überzeugt, dass dieses Gemälde deswegen so einzigartig sei.«
    »Hat er gesagt, welches Ereignis er genau meinte?«
    »Nein, hat er nicht. Nun ja, nicht wirklich. Aber er erwähnte eine Expedition, die Alexander von Humboldt angeblich im Jahre 1805 ins Eismeer unternahm. Das war alles.«
    »Stimmt das?«
    »Was?«
    »Das mit der Expedition.«
    Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, ich habe das nie überprüft. Es fiel mir gerade eben wieder ein. Die Erinnerung kann einem schon Streiche spielen. Man erinnert sich jahrelang an bestimmte Dinge gar nicht mehr, und dann, mit einem Mal, springen sie einen förmlich wieder an.«
    »Und man hat keine Ahnung, ob sie von Bedeutung sind oder nicht.«

    »Ja, du sagst es.«
    Vesper rieb sich müde die Augen.
    Meine Güte, wohin führte sie das alles nur?
    Doch dann kam ihr ein Gedanke, der eigentlich ganz und gar naheliegend war. Warum sie nicht schon früher darauf gekommen war, wusste sie nicht zu sagen. »Haben sich unsere Eltern gekannt?«
    »Daran habe ich auch schon gedacht.« Er bremste ab, fädelte sich in den dichten Verkehr ein. Vor ihnen lag

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