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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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zwei enge Fensterluken zu erhellen versuchte.
    »Verdammt«, fiel es aus seinem gähnenden Mund. Weitere Augenblicke später baute er die Worte Flucht, Mauer, Keller zu einem stimmigen und ihn betreffenden Bild zusammen. Er orientierte sich prompt, und die Ereignisse der letzten Nacht waren deutlich präsent.
    Von einem, der nicht mehr laufen wollte. Eine Geschichte von Ignaz Buchmann.
    Zufrieden steckte er das vorm Schlafen geschriebene Werk ein, sicher, dass es eine gelungene Geschichte war. Nun sollte seine eigene Geschichte gelungen gestaltet werden.
    Er schälte sich behäbig aus den Lumpen und Decken, reckte seine steifen Glieder und ließ ein gurrendes Seufzen durch den geschlossenen Mund hören. Ein ähnliches Geräusch ertönte aus seinem Bauch und vermittelte ein leicht stechendes Hungergefühl, mit dem sich Ignaz vorerst nur oberflächlich beschäftigte.
    »Der Honig war lecker«, sagte er.
    Er tippte sich auf seinen Bauch, und der Magen antwortete mit einem kleinen Rumoren. »Jetzt wartest halt erst mal, oder?«
    Sein Durst war weniger geduldig und riss nervend an seiner Zunge. Trinken muss der Mensch, sonst ist er nichts.
    »Also wo?«, fragte Ignaz sich selbst. Er klemmte sich seinen Büchersack unter den Arm. Beim Losgehen bemerkte er, dass er nur einen Schuh am Fuß trug.

    Leibesertüchtigung nach Sauckel
    Nusser und Sauckel gingen nebeneinander.Tagtäglich machten sie das, weil es war Befehl. Nicht das Nebeneinander, eher das Gehen. Patrouillieren. Korrigieren. Durchforsten. Entsorgen.
    Patrouillieren. Wobei diesem Vorgang ein gewisses Nebeneinander nicht abgesprochen werden konnte.
    Korrigieren. Im Sinne von den Rotstift anwenden.
    Durchforsten. Also aufstöbern von ungebetenen Gästen, vielmehr »Liegengebliebenen«, im ausradierten Sektor.
    Entsorgen. Bei Durchforstungserfolg das »Material« entsorgen, also ins Lager damit, außer, falls das »Material« sich stark wehrte, dann konnte man es kaputtmachen. So formulierte es der offiziersinterne Volksmund.
    Zurück zu Sauckel und Nusser.
    »Leibesertüchtigung«, sagte Nusser. »Gymnastik. Dauerlauf. Gewichte stemmen. So etwas.Training der Ausdauer und Muskulatur.«
    »Ach komm, Nusser. Wie viele Kinder hast du?« Sauckel hob zwei Finger in die Höhe, weil er annahm, Nusser hätte bei seinem heimatlichen Erinnerungsschwelgen zwei Bälger erwähnt.
    »Drei.« Nusser sagte es mit Stolz und schickte vier liebevolle Gedanken in die Heimat. Drei für die Kinder, einen für seine liebe Ehefrau.
    »Na also.« Sauckel stieß Nusser den Ellbogen in die Seite, dabei rutschte ihm das Gewehr von der Schulter. Mit einer schwungvollen Bewegung schnellte er den Riemen nach hinten, so dass die MP 43 wieder an ihrer gewohnten Marschierposition verweilte.
    »Siehste. Deine Kinder hat doch nicht der Storch gebracht, wie? Verstehst du, was ich meine?«

    Nusser schüttelte mit einer Miene den Kopf, die zu sagen pflegte: Was soll man daran verstehen?
    Sauckel schrie: »Geh, Nusser. Vom Bumsen spreche ich. Weiber bumsen. So bleib ich körperlich auf Zack.« Er lachte hysterisch. Plötzlich hielt er inne, packte Nusser am Ärmel und blickte ihn von unten hinauf an.
    Nusser erwiderte den Blick – weiterhin ohne Regung.
    »Ficken!«, schrie Sauckel erneut. »Ficken!«
    Seine Hüfte schnellte vor und zurück, während er mit seinen Händen einen imaginären Gegenstand auf Geschlechtsteilhöhe festzuhalten schien.
    »Ruhe, Sauckel«, zischte Nusser. Er blickte sich hastig um. »Nicht so laut.«
    Sauckel kicherte dreckig, so wie eben alte Saukerle kichern. Nusser fuhr fast flüsternd fort:
    »Ficken… also Geschlechtsverkehr ist doch keine Leibesertüchtigung. Ich rede von Sport.« Er versuchte mit einer gedämpften Stimme Sauckel in eine ähnlich ruhige Verfassung zu bringen. Es gelang. Sauckel antwortete knapp, aber in Zimmerlautstärke, obwohl sie im Freien waren.
    »Ficken ist Sport.«
    Nusser verzog das Gesicht. »Wer sagt denn so was?«
    »Ich. Vor etwa zwei Sekunden«, gab Sauckel selbstverständlich an.
    »Geschlechtsverkehr ist ein Akt der Liebe«, entrüstete sich Nusser.
    »Haaaaaaaaaaaaaaa!« Sauckel brüllte, dass ihm die Augäpfel hervortraten.
    »Mensch Sauckel, Sie Dummkopf.« Nusser befürchtete, dass sie durch Sauckels Lautstärkeüberschwang während ihrer Arbeit mächtig Ärger bekamen. Zwar gingen sie momentan alleine durch die Straßen, aber in diesem von Gott und der Welt verlassenen Areal hallte schon ein normal gesprochenes Wort durch die Mauern

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