Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
Vom Netzwerk:
dass er von ihm nicht heimgeholt werden wollte.
    »Ah. Ein Schuh.« Ignaz nahm ihn auf, erkannte sofort, dass es sich um den Schuh von gestern Nacht handelte. Ein Damenschuh dazu. Er ließ ihn achtlos fallen. Er wollte Schuhe haben, weil er sie brauchte. Mit Schuhen ist er schneller, logisch, viel schneller. Eine Frage klopfte an seine Schläfen: Was macht denn ein einzelner Damenschuh auf der Straße?
    Langsam, als Ignaz den Kopf hob, rollte sich ein seltsames Bild in sein Blickfeld, das er gestern in der Dunkelheit nur mit verschwommenen Konturen hatte erkennen können.
    Das Straßenpflaster zeigte quadratische, abgewetzte Steine, die von allerlei Zeugs bedeckt waren, das nicht auf quadratische, abgewetzte Steine gehörte. Textilien. Utensilien des Hausgebrauchs. Taschen und Koffer. Spiegel, Bürsten und Bücher. Haare. Gardinen, Vorhänge und zerschmetterte Holzbretter und Möbel. Die ganze Straße entlang. Wirr und wild verteilt. Ein seltsames Bild. Beängstigend, weil es so sehr fremd erschien.
    »Was zum Teufel ist das hier?«
    Ein Meer aus Gegenständen. So weit das perplexe Auge reicht. Die Realität, die sich in Ignaz’Pupillen schob, wirkte grotesk. Ein Grund, die Realität zu hinterfragen. Keine Menschenseele auf der Straße, Millionen Fetzen, Textilien, Utensilien, Gegenstände und Dinge wild durcheinandergewürfelt auf dem blanken Pflaster, aber niemand, der dies dort verstreute, suchte oder gar vermisste. Ein Meer aus herrenlosen Sachen. Und drei herrenlose Körper. Ignaz trat einige Meter in deren Richtung. Drei Leichen. Kinder. Gestern hielt er sie für Mäntel. Ignaz verharrte. »Du lieber Gott, was hält dieser Krieg für uns parat?« Er kämpfte mit den Tränen.
    Er hob einen Mantel auf und bedeckte damit die drei erschossenen Kinder. Was hatte das nur zu bedeuten? Aber in dieser grauenhaften Zeit nach Bedeutungen zu suchen war sinnlos. Was ihm der Krieg an rücksichtslosem Handeln und unverständlichem Verhalten von Menschen anderen Menschen gegenüber vorspielte, stumpfte einen ab. Ignaz hoffte, die Kinder wären nun im Himmel. Oder in einem Märchen.
    Er wandte seinen Kopf und ließ seine Sehkraft die andere Straßenrichtung abtasten. Das gleiche Bild. Überall lagen Gegenstände auf der Straße – Habseligkeiten irgendwelcher verlorenen Seelen.
    Hoppla. Da war doch was.
    »Da ist doch was«, murmelte Ignaz in das Meer der Dinge hinein. Keine Antwort, logisch. Er war alleine.
    Eben nicht.
    »Da ist doch wer, oder?«
    Am Ende des surrealen Straßenbildes, und das konnte er nur erkennen, weil er seine Sehkraft durch das Verengen der Augenlider um einige Prozente erhöhte, nahm er zwei menschliche Konturen wahr. Personen. Lebende Personen. Er war nicht allein.
    Die Tatsache, dass ihn die gespenstische Szenerie vor ihm zutiefst irritierte, sorgte dafür, dass sein Gespür für die eigene Sicherheit löchrig zu werden schien. Sind es gute Menschen oder schlechte? Sozusagen welche, die Antworten auf dieses Verbrechen geben konnten oder welche, die daran beteiligt gewesen waren und ihm, Ignaz, vor Augen führen sollten: Abhauen. Aber in jedem Falle: Vorsicht. Und die verlor er.
    Der eine schien starr dazustehen. Der andere, und daraus schloss Ignaz, dass es Menschen waren, bewegte in seltsamer Weise Arme und Beine. Sie vollführten Hüftbewegungen.
    »Ein Tänzer?«, dachte Ignaz, als er einen Koffer und einen Hut mit zwei großen Schritten überstieg.
    »Der onaniert.«
    Eine weitere Fassungslosigkeit stürmte sein Hirn.
    Nun vernahm er auch Wortfetzen, die durch die enge Straße zu ihm herüberwehten.
    »Rotweinstiefel, Eier, Saukerl.« Das verstand Ignaz. Er verharrte.
    Die von ihm aus gesehen linke Person setzte sich in Bewegung. Offenbar wählte sie den Weg in seine Richtung. Die andere zappelte mühsam weiter.
    »Melone, Rumänin, Lady Lydia, Nahkampfmassage, auch Leibesertüchtigung.« Weitere Fetzen, die sich durch sein Trommelfell in das Bewusstsein schälten.
    Nun verharrten auch die etwa fünfzig Meter entfernten Personen.
    Und siehe da, lag es an der Verharrung oder daran, dass der Wind jetzt noch deutlicher in Ignaz’Richtung blies, Folgendes konnte Ignaz sehr gut verstehen:
    »Stehen bleiben!«
    Ignaz blieb stehen, so wie seine Gedanken zu stehen schienen. In Zeitlupe, so gaukelten es ihm seine Augen vor, bewegten nun die beiden Menschen ihre Extremitäten. Unregelmäßig klapperten deren Schritte über das Pflaster, je nachdem, ob sie auf Steine oder auf Textilien trafen.
    Wie bei

Weitere Kostenlose Bücher