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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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einer Tanzkür vollführten sie parallel eine weit schwingende Armbewegung, um plötzlich mit zwei Stöcken, das sah er mittlerweile trotz der Zeitlupe oder genau deswegen sehr deutlich, auf ihn zu deuten.
    Und so ist es eben, wenn man in einer temporeichen Situation so sehr gefangen scheint, dass man nur noch alles in Zeitlupe sieht – auch das Schicksal hat hier ein Wörtchen mitzureden – es kann einen nur ein akustisches Signal in die Echtzeit zurückholen.
    Ein Knall ertönte, der Ignaz mittlerweile vertraut vorkam. Oder sagen wir bekannt, weil was ist an einem Gewehrschuss schon vertrauenerweckend? Die Kugel sang nicht weit entfernt von seinem rechten Ohr das Lied des Ablebens, und so tat er dann doch das, was er schon beim Erkennen der Konturen hätte machen sollen: Abhauen. Explosiv und raubtierartig, und das kam ihm dann nicht mehr wie in Zeitlupe vor. Er drehte seinen Körper um 180 Grad und begab sich in einen Zustand, der mit Verlaub langsam zum Kotzen war. Flucht.
    »Stehen bleiben, Jude!«
    Mit diesem Satz im Nacken huschte Ignaz um die Ecke, über Brillen, Blusen, Papier und Schuhe hinweg, in eine Gasse, auf der er nochmals sein Tempo zu verschärfen versuchte. Mit nur einem Schuh an den Füßen.
    »Jetzt, Nusser, du Arschloch. Jetzt hast du deine Leibesertüchtigung.«
    »Schneller, Sauckel. Schneller.«

    Die Suche nach Raffael Krupp
    Ignaz Buchmann wusste mittlerweile, wann er zu rennen hatte. Und in diesem Fall ganz besonders. Nicht alleine die Gewehrpatrone machte ihm Beine. Es war eine Kombination. Kombinationen haben eine verstärkende Wirkung, und verstärkende Wirkungen haben oft etwas Beschleunigendes. Also beschleunigte Ignaz, weil er diese Kombination in seinem nun wieder wachen Gehirn zu deuten wusste.
    Zum einen war da die Gewehrkugel mit dem Lied.
    Zum anderen war da: »Stehen bleiben, Jude!«
    »Schneller, Buchmann. Schneller.« Ignaz’ eigene Worte peitschten ihn durch die Straßen. Wie ein Hase schlug er Haken durch die ihm unbekannte Gegend. Links rein. Wohin? Egal. Rechts herum. Wohin? Egal. Immer weiter. Immer weiter weg von den beiden SS-Soldaten, wie er sich nun sicher war.
    Mittlerweile hatte er Übung. Die trainierten Muskeln schoben den sehnigen Körper durch die Gassen, die, und das fiel ihm trotz der bedrohlichen Situation auf, frei von jeglichem Menschen war.
    Kein Mensch, kein Tier.
    Kein Nichts.
    Nur er, und jene zwei, die nach seinem Leben trachteten.
    Wenigsten hatte er freien Fluchtweg. Nur hier eine Regenrinne, dort eine Mülltonne, da einige zerstörte Holzmöbel, die es zu umkurven galt in diesem vermaledeiten Labyrinth, zudem Kugeln aus zwei Repetiergewehren auszuweichen, die sich hin und wieder durch Regenrinnen oder Mülltonnen bohrten und in Mauerwerken stecken blieben – in diesem vermaledeiten, sich verkleinernden Labyrinth der Aussortierten.
    Der Wahnsinn tobte in Europa, in der ganzen Welt. Krieg und Verderben, dem Ignaz laut des staatlichen Dokuments, das ins Haus seiner Familie geflattert war, hätte an der Front beiwohnen müssen. Nie im Leben hätte er freiwillig bei den kriegerischen Blödheiten des geistig verrohten Menschen aus Österreich mitgemacht. Und auch eine Anordnung des Regimes, sich zu melden und fürs deutsche Vaterland zu kämpfen, konnte seine Einstellung nicht umkehren. Von wegen Veränderung und Umbruch, Wirtschaftsaufschwung und Autobahnen. Das Ganze artete in eine böswillige Geschichte aus, deren schreckliches Ende nur zu erahnen war. Den Organisationen des Widerstandes fühlte sich Ignaz zugehörig. Sein früherer Schulfreund Matthäus Trompler sprach ihn einmal nach einem Kirchgang am Sonntag an. Er lobte Ignaz’ Rhetorik und Phantasie, mit der er in jungen Jahren schon sein Umfeld begeistert hatte. Genau diese beiden Substantive wünschte sich Matthäus Trompler für seine zukünftige studentische Verbindung, welche letztlich ebenso wie die Weiße Rose handeln und werkeln sollte. Nur eben nicht in der »Stadt der Bewegung«, sondern in Freising. Ignaz sollte für sie ein Märchen verfassen. Mit einigen Inhalten, welche der Regierung nicht gefallen würden. Die Idee fand Ignaz stark. Zu einer »Bewegung in Freising« kam es nicht. Dafür der Einzugsbefehl.
    Das auffordernde Schreiben, in den Kriegsdienst zu treten, kam nicht überraschend, und der Ton war unmissverständlich. Das Einrücken war ein Befehl, dessen Missachtung in Freiheitsstrafe enden würde, wenn nicht sogar in Todesstrafe.
    Anderen Männern stand schon der

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