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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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versucht einen Kopfstand, kann aber das Gleichgewicht ebenso wenig halten wie seinen Urin. Immer wieder dreht er sich auf den Kopf oder versucht es zumindest. Sieht aus wie ein Überlebenskampf, so mit eingenässter Hose.
    »Das Haus hat sich gedreht. Es steht kopf«, versichert er.
    Auf seinem Genick liegend, die Beine wie eine schiefe Kerze in die Luft stemmend, greift er mit der Hand nach der Tür.
    Ich werde unruhig, nicht weil wir eventuell von Herrn Holle erwischt werden könnten, sondern weil es mir nicht gutgeht. Beängstigend schlecht sogar. Hinter meinen Augen pocht eine unbekannte Gewalt. Angstschweiß klebt an meiner Stirn, er hat die gleiche Farbe wie die menschlichen Leiber, die ich an den Bäumen hängen sehe. Milchig. Der Kopf von Mike van Bergen liegt dort, wo wir die Mistpilze gefunden haben. Über ihm schwebt eine Sprechblase. Er sagt:
    »Go South, Carlson vom Dachschaden!«
    Ich fühle mich einsam und schuldig. Ich will nach Hamburg. Olsen sitzt mittlerweile leblos auf einer Holzbank neben der Eingangstüre. Er hat keine Augen mehr. Und keine Ohren. Nur noch Nase und Haare. Sein Mund ist ein Aluminiumdeckel einer Fischdose. Er sieht tot aus.
    Über der Eingangstür sind Buchstaben eingeschnitzt. Sie tanzen. »Hell Awaits«, lese ich mühsam. Slayer. So kann es gehen. Am Nachmittag noch im Paradies, in der Nacht auf der Schwelle zum Jenseits. Ich richte mein milchiges Augenspiel auf den verblichenen Olsen. Neben ihm sitzt Zerberus, der Höllenhund. Bewacher des Schlundes, welcher in den Hades führt. Das Ungetüm reißt an den brennenden Ketten, an denen es angelegt zur Räson gebracht werden soll. Die Hitze hat Olsens Olivendeckelmund schmelzen lassen. Grausam.
    Von innen sticht mir ein Messer gegen die Magenwand. Ich verkrampfe und gehe auf die Knie. Mein Körper nimmt die Fötalstellung ein. Es beginnt zu schneien. Ich bin mir sicher: Das ist das Ende.

    Zwoife — Sense hoch!
    Es gibt eine Firma namens H.J. Schröder. Sie steht seit Jahren immer neben der Achterbahn, die Hamburger Dombesuchern das Fürchten lehrt. Vorher war Günther Mühl Inhaber der Maschinerie. Günther Mühl war im Jahre 1953 auf die Idee gekommen, dass auf dem Jahrmarkt in Oldenburg Betrunkene, Beweissüchtige, Ehemänner und Möchtegernkraftprotze ihre überschüssige Energie unter Beweis stellen wollen. Er installierte eine Vorrichtung, die man mit einem Wikingerhammer bearbeitet. Dieser »Hau den Lukas« steht nun seit einigen Jahren auf dem Hamburger Dom. Genau neben der Achterbahn. Inzwischen betrieben von H.J. Schröder.
    Vor allem Ehemänner lassen gerne den Kolben an der Latte nach oben schnalzen. Ohne »Hau den Lukas« wäre die Ehefrauenermordungsrate um ein Vielfaches höher, als die Statistiken präsentieren. Bevor ein von seiner Frau genervter Ehegatte seiner exorbitanten Wut freien Lauf lässt, die Gattin dabei unglücklich touchiert, so das Ableben herbeiprovoziert, geht er zum Jahrmarkt. Dort, im Wissen, sich seiner Aggression auf antikriminellem Wege zu entledigen, haut er bei einmaliger Bezahlung dreimal mit dem Hammer auf den Lukas, und die Frau bleibt am Leben. Das ist nur ein Beispiel, aber allgemeingültig.
    Exactement diesen»Hau-den-Lukas«-Stand wollteich vor drei Jahren passieren. Ich war mit Sherrill Wagner, einer Lebensabschnittsgefährtin amerikanisch-indischer-deutscher-was-weiß-ich-noch Abstammung, auf dem Hamburger Dom. Liebesapfel essen, Rosen schießen, solche Sachen. Sherrill kannte ich von einem Kunstprojekt an der Universität. Sie hatte feingliedrige Finger, pechschwarze Augen und eine spektakuläre Art, Ton zu modulieren, was mich tief befriedigte. Also begeisterte. Ferner war sie zuvorkommend und konnte nur sehr wenig Deutsch, was ich exotisch und anziehend fand. Auf dem Weg zur Geisterbahn unterbreitete ich ihr einen Heiratsantrag, da saust mir justament der ausholende Holzhammer eines angetrunkenen Werder-Fans auf die Stirnpartie. Ein unglückliches Missgeschick der Marke »Dick und Doof«.
    Ich fiel in Ohnmacht.
    Sherrills Stimme, isoliert von allen anderen jahrmarkttypischen Geräuschkulissen, forderte stets: »Joseph, open your eyes. Bitte, mach die Augen auf.« Es war mir ein Ding der Unmöglichkeit, obwohl ich, so schien mir, im Vollbesitz meiner mittlerweile wiedererlangten geistigen Kräfte war. Augen auf! Augen auf! Ging nicht. So sehr ich mich anstrengte.
    Die Zeit heilt alle Wunden – und öffnet alle Augen. Meine nach etwa 25 Minuten. Sherrill lachte mich an und

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