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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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Olsen auf mich. Ich rieche es. In meinem Mund tobt ein galliger Fischgeschmack. Meine Zunge ist ein Pelzfetzen. Um mich herum ist das weiße Papier besprenkelt. Künstler fänden diese Anrichtung wohl sehr arty. Mir stinkt sie.
    »Alter Schwede. Olsen, hilf mir.«
    Ich ziehe mich an Olsen hoch. Er versucht Abstand zu halten. Kein Wunder. Ich habe Erbrochenes an der teuren Goretex-Pro-Shell-3-Layer-Jacke, am Hals, im Haar und im Augenbrauenbereich. Verdammt, meine tolle professionelle Bergjacke einer sündteuren skandinavischen Exklusivmarke. Atmungsaktiv. Wasserabweisend. Erbrochenesabweisend? Ich hoffe.
    Jetzt fällt doch irgendetwas in meinem Körper um. Ein Gefühl von Schwere füllt meine Adern. Olsen und ich tarieren uns gegenseitig aus. Letztendlich stehen wir stramm und selbständig im Raum. An unseren Unterschenkel weißer Zellstoff mit Tintenklecksen darauf. Ein Kugelmeer.
    Ich erkläre es für das Beste, schleunigst die Hütte zu verlassen. Wir haben hier überhaupt nichts verloren. Außer Kotze. Im Vorwärtsgehen kickt Olsen gegen einen schweren Gegenstand, der unter den Papierkugeln am Boden entlanggleitet. Es sieht aus, als ob eine Ratte sich ihren unterirdischen Weg bahnt.
    »Meine Taschenlampe«, fällt mir ein. Ich mache einige Schritte auf die vermutete Endposition der Lampe zu, da gefriert mir das Blut unter der Kopfhaut. Mit einer Geste bedeute ich Olsen innezuhalten.
    Wieso haben wir ihn nicht bemerkt?
    Wieso haben wir ihn hier nicht vermutet?
    Der Mann, der Hüttenbesitzer, ruht am Schreibtisch. Erst in diesem Augenblick entdecken wir ihn. Wir blicken ihm auf die grüne Weste, Rückseite. Er regt sich nicht. Sitzt dort so, wie wir ihn gestern durchs Fenster beobachtet haben. Sein rechter Arm ist still. Er trägt einen grauen Hut auf dem Kopf. Ein großer, buschiger Pinsel ist darauf montiert. Da er mit dem Rücken zu uns sitzt, können wir seinen Gemütszustand nicht deuten.
    »Guten Tag.« Olsens Stimme bricht wie Glas.
    Ich räuspere mich. Nicht um Aufmerksamkeit zu erlangen, das hat Olsen schon getan, sondern um den Frosch im Hals zu entfernen, der sich aus Überresten des Erbrochenen zusammensetzt.
    »Hallo?«, frage ich. Der Mann rührt keinen Finger. Wir haben ihn wohl stark verärgert. Hoffentlich fummelt er unter dem Schreibtisch nicht nach einer Schusswaffe.
    »Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Joseph Schmidt. Das hier ist mein Freund Moses Olsen.« Olsen schlägt mich in die Seite.
    »Er heißt Olsen«, verbessere ich mich unsinnigerweise.
    »Bitte entschuldigen Sie unser Eindringen. Aber wir haben nur…«
    Ja, was haben wir nur? Wir haben gestern Nacht nur THC geraucht, psychoaktive Pilze gegessen und dann Räder geschlagen. Wir haben Cowboy und Indianer gespielt, uns schlapp gekichert und plötzlich an den Bäumen tote Menschen gesehen. Uns schwanden die Sinne, und heute Morgen sind wir in Ihrer Hütte aufgewacht. So etwas kann man keinem Menschen anbieten, den man gerade in seinem Eigenheim überrascht. In einem seltsamen wohlgemerkt.
    »Wir haben gerade Pilze gesammelt«, eilt Olsen zu Hilfe. »Und wollten fragen, was es mit den Pilzen vor Ihrem Häuschen auf sich hat. Sind die genießbar?«
    Ich sehe Olsen mit fragender Miene an. Wie blöd ist das denn? Er zuckt nur hektisch und hilfesuchend mit den Schultern. Er fährt fort:
    »Warum liegt denn hier überall Papier?«
    Wir werden bestimmt erschossen.
    »Hören Sie, Herr Waldbewohner…«
    Mit einer vehementen Handbewegung versuche ich Olsen zum Schweigen zu bringen. Es gelingt für drei Sekunden, dann fährt er fort:
    »Herr Hotzenplotz, sind Sie taub? Wir…«
    »Olsen, halt das Maul!«, unterbreche ich ihn.
    »Verzeihen Sie, wir sind unter höchst widrigen Umständen in Ihrer Hütte gelandet. Dafür entschuldigen wir uns. Wir werden nun einfach wieder gehen. Einen wunderschönen Tag wünscht Olsen mit Joseph.«
    Was diese Verabschiedung soll, weiß ich nicht. Nervosität schlägt dem Sprach- und Handlungszentrum oft ein Schnippchen. Den Mann scheint das nicht zu interessieren. Eingefroren wie eine Schaufensterfigur. Irgendetwas stimmt nicht. Der Mann zeigt keinerlei Regung. Er macht keinen Pieps. Seine Kopfhaltung ist unnatürlich. Das Kinn liegt auf dem Hals, während der Schädel fast im Nacken liegt.
    Ich gewinne einige Meter. Bewege mich seitlich um den großen Esstisch. Immer darauf bedacht, mit dem vorderen Bein einige Kubikmeter Papier wegzudrücken. Als ich den Bergbewohner ins Profil bringe, setzt mein Herz einen

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