Grimms Erben
Kälte.
Vierter Dübel. Olsen lallt etwas von einem Lottogewinn, den er vor drei Wochen einheimste, und sein Leben für immer verändern wird. Er will mir die Hälfte davon abgeben – vierzehn Euro. Stark von Olsen.
Zeit vergeht. Wie viel? Das einzuschätzen liegt nicht in meiner Macht. Ich halte einen Monolog über den Unterschied des Flugverhaltens von Verkehrs- und Modellflugzeugen. Ich bemerke lasch, dass ich ein leichtes Interesse für dieses Thema hege. Aber es ist mir vor allem momentan total egal.
Meine Augen sind so gereizt, als habe ein Fremder Sand hineingestreut. Aus Olsens offenem Mund steigt Dampf auf, vermischt sich mit einem Schnarcher, der nach wenigen Zentimetern wie ein Geist verschwindet und Teil der glasigen Bergnacht wird. Olsen ist ein Schläfer. Bei dem Gedanken erschrecke ich kurz und lese auf seiner Aluminium-Trinkflasche Metaliban. Das kann doch nicht sein, oder? Im nächsten Moment ist mir auch das egal. Auf seiner Flasche steht plötzlich »Metallica«, und ich denke noch, während ich müde werde, was für eine doofe Trinkflaschenmarke das ist.
Kurz bevor ich es Olsen, der in seinem Hightech-Schlafsack schlummert, es gleichtun kann, halte ich in meiner Abwärtsbewegung inne. Dort, wo ich den Wald vermute, flimmert ein Licht. Erst bin ich mir nicht sicher. Müdigkeit ist ein Blender. Ebenso halluzinogene Rauchwaren. Schließlich mache ich mit Hilfe starker Augenbemühung einen deutlich hellen Fleck im Wald aus.
Ein Feuer zweier Wildcamper?
Die Spiegelung eines Feuers zweier Wildcamper, das es gar nicht gibt?
Eine Taschenlampe eines in Notlage geratenen Bergwanderers?
Eine Überlebensaktion Rüdiger Nehbergs?
Rumpelstilzchen? Natürlich nicht.
Schon stehe ich, trete Olsen sanft in die Seite. Olsen jault auf und ruft: »Du Penner. Das war mein Kopf.«
Wie liegt der denn im Schlafsack?
»Olsen, steh auf. Da hinten ist etwas.«
»Jaja, ein Hirsch wahrscheinlich.« Olsen ist genervt, seine Stimme vom Schlaf ummantelt. Offenbar befand er sich gerade in einem schönen Traum.
»Ein Hirsch mit Christbaumkerzen? Olsen, sieh doch mal, ein Licht«, flüstere ich.
Olsen schält seinen Kopf aus der Schlafsacköffnung. Eine Weile vergeht.
»Das ist in Ehrwald unten. Oder Lermoos. Das ist im Dorf«, blafft er.
Jetzt ist es an mir, Olsen einen Penner zu nennen. Keine Minute später kriechen wir mit meiner Photonenlampe im Anschlag durchs Hochgebirge auf ein Licht zu, das unsere Neugier der Rubrik »ULQ« geweckt hat.
»ULQ?« Ich höre, wie sich Olsens Gesicht zu einem Fragezeichen verformt.
»Unbekannte Lichtquelle.«
»Weiß ich«, antwortet Olsen souverän.
Neugier ist eigentlich keine Eigenschaft von Individuen, die sich, müde durch körperliche Anstrengung und Drogen, in einem Dämmerzustand befinden. Außer neue Drogen warten.
Olsen ist es, der sie entdeckt.
Am Kiefernwald angekommen, geht Olsen in die Hocke. Als es knackt, bin ich mir nicht sicher, ob es Äste oder seine Knie sind.
»Was war das?«, frage ich deshalb.
»Mein Knie auf einem Ast«, sagt Olsen.
Aha.
Wir sehen nun den Ursprung der ULQ. Licht dringt aus den Fenstern der Hütte, welche sich zu unserer Rechten am Wäldchenrand befindet.
»Licht«, sage ich.
»Ich weiß«, sage ich. Ich bin leicht durch den Wind. Auch Kiffen will geübt sein.
»Olsen, wo bist du?«
Ich lege mein Ohr in die Nacht, halte meine Nase in den Wind.
»Joseph! Hierher!«
»Mensch, nicht so laut!«, flüstere ich schreiend.
»Joseph. Hierher.«
Ich streife einige Meter in den Wald hinein. Meine Taschenlampe strahlt genügend Licht auf den von Nadeln, Zweigen, Moos und Blättern bedeckten Boden, aus dem ein frischer, erdiger Duft dringt.
»Joseph! Hierher!« Wieder zu laut, nach meinem Empfinden.
»Mensch Olsen, nicht so laut!«, brülle ich wieder, so leise es geht. Plötzlich stolpere ich über einen Gegenstand, der auf dem Boden liegt. Erschrocken drehe ich schnell die Lampe auf das, was mich zu Fall gebracht hat.
Beine!
»O Gott!« Ich krabble in Höchstgeschwindigkeit einige Meter davon. Die Taschenlampe erlischt. Ich fummle hysterisch am On-Off-Button. Nichts.
»Olsen, hier liegt eine Leiche!« O Gott, hier liegt eine Leiche.
»Verdammt. Wo, Joseph?«
Ich rüttle mit Onanierbewegungen am Schaft der Taschenlampe. Mit Erfolg. Es kommt – das Licht. Ich richte Helligkeit auf den Kopf des Körpers, der da liegt. Mein Blut gefriert zu Eissprayflüssigkeit.
Olsen ist die Leiche. Er liegt tot auf dem Waldboden.
»Wo,
Weitere Kostenlose Bücher