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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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und Stellen. Einige Gegenstände lassen sich keiner genauen Funktion zuordnen. Mordinstrumente für Tier und Mensch. Eine Gaslampe hängt von einem Balken herab. Und Kerzen. Überall Kerzen. Was uns aber wieder zum Kichern bringt sind tausend weiße Bälle, die sich auf dem Fußboden befinden. Was sage ich. Überall im Hüttenzimmer. Millionen. Milliarden Bälle. Aus Papier, so scheint es. Wir schmeißen uns fast weg. Olsen klopft abwechselnd gegen seine Stirn und dann gegen meine. Das geht so eine halbe Minute. Wir pressen unsere Pupillen wieder in Richtung der mystischen Hütteninnenraumbegebenheit.
    Ich finde den Anblick ziemlich schön. Wie meterhoher Schnee inmitten eines warmen, wohligen Raumes. Ich führe eine Rolle rückwärts in den flüchtigen Handstand aus.
    Da taucht ein Schuh in mein vibrierendes Blickfeld. Ich kenne ihn, nehme ihn wie einen verlorenen Sohn an mich. Ich blicke an mir herab und erkenne zwei Füße mit Schuh und zwei nur mit Socken bedeckt. Ich halte aber nur einen Schuh in der Hand, das fühle ich deutlich. So ein Pech. Ich fange kurz ganz leicht zu weinen an, fange mich aber gleich wieder und ziehe das Lederbeinkleid über einen der beiden Socken. Mir doch egal, drei Schuhe sind besser als zwei.
    Dann gehe ich zurück ans Fenster. Olsen ist nun ruhig und reibt sich den Bauch.
    »Hunger?«, frage ich belustigt.
    »Hewhcuab.«
    »Hä?«
    »Bauchweh.«
    Hat er gerade rückwärts gesprochen?
    Wir werfen unsere Blicke weiter durch die dünne Glasscheibe, welche fast lose zwischen dem hölzernen Fensterrahmen hängt. Wie eine zarte Scheibe eingespannter Kalbsleberkäse, würde ich meinen. Endlich wird unser Drang gestillt, der eigentlich andauernd nach Erlösung verlangte. Wir sehen den Bewohner der Hütte. Es ist ein Mensch.
    Der Mann sitzt mit dem Rücken zu uns an einem kleinen, grauen Tisch. Ein Schreibtisch offenbar. Neben ihm liegt ein großes Buch. Mit rotschimmerndem Einband. Die Bibel? Oder ein Märchenschinken? Schöne, goldene Ornamente drehen sich auf dem Buchdeckel zu Spiralen. Das ganze Buch wirbelt plötzlich in der Luft. Mir wird übel. Und so, wie sich mir dieser Kasten von allen Seiten präsentiert, bin ich mir plötzlich sicher: Es ist eine Keksdose. Eine rote zerkratzte Blechschachtel.
    Auf seinem Buckel hat der Mann unzählige Jahre hängen. Weißes, festes Haar fällt ihm halblang auf den karierten Hemdkragen. Aus seiner grünen Weste führen zwei karierte Arme. Der Rechte wackelt und zuckt. Entweder seziert er einen Frosch, oder er schreibt. Olsen lässt einen undefinierten Ton aus einem Gesicht fallen. Ich muss pinkeln. Irgendwie zittert alles. Und dehnt sich.
    »Ist das Räuber Hotzenplotz?«, frage ich von einer gelangweilten Neugier gedrängt.
    »Wenn das Räuber Hotzenplotz ist«, kommt es von Olsen, »dann bin ich Kasperl und du Seppel.«
    Der Hüttenbesitzer schmeißt plötzlich eine riesige Schneeflocke über seine Schulter. Sie landet auf dem Esstisch neben acht anderen riesigen Schneeflocken.
    »Herr Holle«, flüstert Olsen andächtig. »Herr Hollenplotz!«, verbessert er sich.
    »Mal das auf«, sage ich automatisch, und wir beide müssen wieder streng kichern. Der Mann im Inneren hört uns nicht.
    Die Farben verändern sich plötzlich, und ich frage Olsen, ob er das auch hat. Olsen sagt, er sehe alles nicht so bunt, und klopft sich dann wieder gegen die Stirn. Aber ohne Kichern. Das Licht aus der Hütte fällt ihm direkt ins Gesicht, und ich sehe, wie er sich mit dem Finger auf seinen geöffneten Augapfel tippt.
    »Ich spüre nichts. Ich kann nichts fühlen.«
    Anschließend versucht er sich einen Kiefernzapfen ins Ohr zu stecken.
    Meine Knie werden weich, und Übelkeit oder Hunger steigen auf. Olsen dreht seitwärts ein Rad und meint:
    »Ich gehe rein!«
    Was?
    »Ich gehe zum Mann.«
    Als ich ihm hinterhersteige, liegt Olsen am Boden und schleicht wie ein Indianer auf die Eingangstür zu. Ich ziele mit dem Revolver, den ich in der Hand vermute, auf ihn und sage:
    »Kauf dir endlich Cowboystiefel, du dreckige Rothaut.«
    Der Indianer auf dem Waldboden dreht sich zu mir und spricht:
    »Genau dafür bräuchte ich das Geld, das du mitbringen solltest. Howgh!«
    Wieder ein Kichern, das mittlerweile im Magen schmerzt. Ich bekomme Sodbrennen.
    Ich will stante pede einen Abnabelungsprozess mit meiner Haut eingehen. Es fühlt sich darunter an, als ob brennende Ameisen Werke vollbringen. Die Haut will ich eigentlich spenden, mir fällt aber nicht ein, wem.
    Olsen

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