Grimms Erben
Joseph?«, fragt er erschrocken.
Aha. Er liegt nur auf dem Waldboden, offenbar nicht tot. So eine Verwechslung aber auch. Mein Blut erklimmt wieder die vorgesehenen 37°C-Marke. Mein Schreck entfernt sich aus meinen Gliedern. Ich atme durch.
»Vergiss es. Was machst du hier?«
Olsen hält mir etwas entgegen. Es sieht aus wie kleine Eicheln am Stiel.
»Mushroom!«
»Marschrum?«
»Ja«, sagt Olsen. »Voll das Zeug. Mushrooms. Magic Mushrooms. Psilos. Psychoaktive Pilze. Wunderpilze. Zauberpilze.«
In mir regt sich etwas. Spannung. Freude. Irgendwie so was.
»Märchenpilze«, sage ich.
»Olsen, muss man das nicht erst trocknen?«
»Hast du einen Trockner?«
Mir fällt Maria Trebens Heilkräuterbuch »Gesundheit aus der Apotheke Gottes« ein. Hier würden wir Wissenswertes über Handhabung und Medikation der Pilze einholen können. Leider haben wir nicht einmal Rüdiger Nehbergs »Überleben ums Verrecken« am Start.
Ich strahle Olsen mit der Funzel ins Gesicht. Seine Pupillen sind größer als seine Augäpfel. Er kaut auf etwas herum, und die Eicheln in seiner Hand sind weniger geworden. Ich stocke kurz, als ob ich etwas überdenken würde, nur denkt bei mir gerade gar nichts. Ich fasse ihm in die Hand und entreiße ihm die restlichen Pilze. Bevor ich sie richtig in meiner Hand spüre, verschwinden sie schon in meinem Mund. Wir warten und kauen. Wir schlucken und warten. Nichts. Außer das, was eh schon ist.
»Nichts«, sage ich.
»Noch mal«, will Olsen.
»Ist es eine gute Idee, Kiffen und Pilze zu kombinieren?«
»Ist es eine gute Idee, Frauen und Männer zu kombinieren?«
»Weiß nicht.«
»Eins zu null für dich.«
Wir stecken uns noch mal einige Stiele in den Mund, die sehr nahe an einem Baum aus der Erde sprießen. Eine Armee kleiner Männer mit Helmen. Friedliche Überbringer von kuriosen Gedankenwelten.
Sie schmecken nach Blätterteig. Knollenblätterteig vielleicht. Irgendetwas setzt ein. Ein Kombinationseffekt könnte es sein.
Ob nun das vorher inhalierte THC für meine Gleichgültigkeit verantwortlich ist oder die Neugier auf das, was kommen wird, kann ich nicht sagen. Was ich sagen kann, ist: Die Konsequenzen sind mir einerlei.
Zwischen Gaumen und Kopfdeckenunterseite ploppt etwas. Kleine Explosionen, die ich wahrnehme, kitzeln hinter den Trommelfellen. Olsen übt sich in Gesichtsentgleisungen.
Ein Sturm zieht auf.
Ich erkenne, trotz Spiralen vor meinen Augen, dass wir der Berghütte mit dem unbekannten Bewohner mittlerweile schon sehr nahe gekommen sind. Wir können von unserem Standort aus deutlich Konturen des Innenlebens erkennen. Olsen steuert auf die Hütte zu. Mir ist es, als schwebe er über die Waldwurzeln. Olsen dreht sich zu mir um.
»Bärbel. Komm.«
Ich heiße Bärbel.
»Ja, Olsen.« Ich will hinterher. Meine Beine gehorchen nicht so richtig.
»Olsen. Der Wald hält mich fest.«
Olsen kichert und läuft gegen einen Baum. Das sah schmerzhaft aus, aber Olsen umarmt den Stamm und küsst ihn. Ich kann das alles in meinem Taschenlampenlicht genau erkennen. Ich kichere jetzt auch. Der Wald gibt mich frei. Als ich nach unten sehe, fehlt mir ein Schuh. Es fühlt sich toll an. Olsen befindet sich kurz vor der Seitenwand der Hütte. Mit drei Hechtrollen bringt er seinen Körper an die Holzwand heran. Dann sieht er im Sitzen zu mir herüber und wedelt mit dem Arm. Er gleicht Kapitän Ahab, der aufgebunden auf dem weißen Wal seinen Gefährten winkt. Nur andersrum. Er ruft:
»Nimm Geld mit.«
Hab ich dabei.
Ich gehe eher den konventionellen Weg. Aufrecht und ruhig. Olsen lacht und deutet auf mich.
»Du tanzt schlechter als Joe Cocker.«
Tatsächlich drehe ich mich im Kreis wie eine Waldfee. Mir wird ein wenig übel, aber aufhören kann ich nicht. Ich kratze mit beiden Zeigefingerkuppen über meine in Goretex versteckten Brustwarzen. Ich kreiere lasziv-androgyne Gesichtszüge, indem meine Zungenspitze über meine Lippen leckt. Olsen steht mir gegenüber und psalmt: »Mit der Kraft des mir verliehenen Amtes erkläre ich dich zu Mann und Frau.«
Wir stehen Arm in Arm am Fenster und blicken ins Innere der Hütte. Wie Michel aus Lönneberga und Carlson vom Dach. Wir sehen einen abgewetzten, schweren Tisch in der Mitte des großen Wohnraums, bestimmt selbstangefertigte Kommoden und Schränke aus Holz, einen gusseisernen Herd.Utensilien des normalen Hausgebrauchs, allerdings aus der Zeit des Freiheitskämpfers Andreas Hofer, hängen an den Wänden oder liegen verteilt an Orten
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