Grimms Erben
Schlag aus.
Er hatte Besuch.
Vom Sensenmann persönlich.
An seiner rechten Schläfe klafft ein Loch. Von dort aus zieht sich ein Rinnsal Blut über das Jochbein, ehe es im struppigen weißen Bart verschwindet. Am Hals ist ebenfalls Blut. Der Arm steckt in einem mit Blut getränktem Hemdsärmel. Wie ein Geschirrtuch, mit dem verschütteter Rotwein aufgewischt wurde. Mehrere Liter Rotwein. Die Hand taucht in die Papiermasse ein. Das Papier ist in Rot getunkt. Eine Waffe kann ich nirgends entdecken. Mein Magen hat Gänsehaut.
So ein Bild kennt man aus dem Fernsehen. Kriminalfilme spielen gerne mit diesem Klischee. Dem Auffinden einer Schusswaffenleiche. Jedes Mal wenn man solch ein Bild im Fernsehen sieht, denkt man, das gibt es in Wirklichkeit nicht. Falsch gedacht!
»Olsen.« Meine Stimme ist eine Zitterpartie. »Der Mann ist tot.«
»Herzinfarkt?«
»Nein, irgendwie nicht. Er… er… tot durch Waffengebrauch.« Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll. Ich glaube an Selbstmord.
»Er hat sich erschossen… vielleicht. So viel Blut.« Jetzt schwindelt mir doch.
Olsen, der sich nun einige Meter durch den Papierschnee in meine Richtung gefräst hat, übergibt sich. Toll. Schön überall DNA-Spuren verteilen.
Dreizehne — Spuren im Schnee
Drogen nehmen war mir nie wichtig. Ich habe nie auch nur einen kleinen Aufwand betrieben, an Betäubungsmittel zu gelangen. Wenn sie da waren, habe ich sie meistens verflucht, nur selten ein wenig »Gras« und »Märchenpilze« ausprobiert. Wäre ich doch beim Verfluchen geblieben.
Olsen hat Tränen in den Augen. Er verweilt mittlerweile zusammengesunken auf der Essbank des Mannes, der mit einem Loch im Kopf neben uns sitzt. Der Anblick ist mehr als grotesk. Uns allen steht das Papier bis zur Hüfte.
»Wir haben ihn umgebracht«, stolpert es aus Olsens Mund.
Was für ein Gedanke. Ich habe Insekten getötet, einen Killerinstinkt beim Pokerspielen, Lichter ausgelöscht und Herzen gebrochen. Ich habe nie einen Menschen umgebracht. Was für ein Gedanke.
»Du hast ihn umgebracht«, brüllt Olsen mich plötzlich an. Angst schimmert in den Pupillen. Seine spitzen Zähne leuchten gelb, wie die vom bösen Wolf.
»Wieso ich«, entfährt es mir unwirsch. »Du wolltest doch zu ihm in die Hütte gehen.«
Erstaunlicherweise sehe ich die gestrigen Bilder scharf und deutlich vor meinen Augen. Die Erinnerung funktioniert tadellos, bis zu einem Zeitpunkt, an dem sie einfach abreißt. Ende. Nichts mehr.
Verflixt. Wir könnten den Mann tatsächlich umgebracht haben, können uns aber nicht mehr daran erinnern.
Aber wieso sollten wir das getan haben? Und mit was denn, bitte schön? Mit Kieselsteinen? Warum sollten wir einen Menschen töten?
Fragen Sie Bubi Scholz, wieso er im Vollrausch seine Frau Helga erschossen hat. Er wird Ihnen das Gleiche erzählen, wie ich es jetzt tue.
»Keine Ahnung.«
»Was?« Olsen flennt.
»Keine Ahnung, Olsen. Du wolltest doch zu ihm rein. Weißt du denn gar nichts mehr.«
Olsen verteidigt sich.
»Ich bin draußen eingeschlafen. Und draußen aufgewacht. Du aber…«, Olsen sticht mir mit dem Zeigefinger fast ein Auge aus. Seine Stimme überschlägt sich. »… du aber warst hier herinnen.«
Verflixt. Mein Kehlkopf fällt durch die Speiseröhre in den Magen. Ich könnte den Mann tatsächlich umgebracht haben, kann mich aber nicht mehr daran erinnern. Mein Herz gefriert.
»Mit was denn, du Arschloch?«, will ich von Olsen wissen. Panik bahnt sich an.
»Vielleicht hast du ihm mit deiner Taschenlampe den Schädel eingeschlagen.«
Meine Taschenlampe. Die muss hier noch irgendwo sein. Außerdem können nur Taschenlampen von James Bond mit geheimen Schussmechanismen Leute erschießen. Die Taschenlampe von Joseph Schmidt kann nicht schießen. Und der hier wurde ganz klar erschossen. So weit mein pathologischer Befund.
»Lass uns schleunigst abhauen.« Olsen steht auf und hetzt zur Tür. »Wir gehen nicht zur Polizei. Wir hauen ab. Fahren sofort nach Hamburg. Man kann uns gar nichts. Wir gehen zur Polizei. Du hast ihn umgebracht. Ich will dich nie wieder sprechen. Ich hasse dich. Los, Joseph, wir hauen ab. Du bist mein bester Freund.« Olsen ist deutlich verwirrt. Vielleicht ist er verrückt geworden.
»Meine Taschenlampe.«
Ich tauche ab und taste unterhalb der Papieroberfläche hektisch nach einem weiteren Beweismittel, das uns zu Tatverdächtigen macht. Nicht genug, dass wir beide in die Bude gereihert haben. Die Lampe hat Olsen in die
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