Grimms Erben
Stellungsbefehl ins Haus. Also wurde es für Ignaz eng. Er flüchtete auf Geheiß des Vaters. Mit der Fahne oder vor der Fahne. Wie man es nennen mag. Er war an dem Abend seines Aufbruchs betrunken, aber mit einem deutlichen Ziel vor Augen. Mit seinem Bruder Aki sollte er in die Alpen. Den Krieg im Bergmassiv aussitzen, in einer Hütte versteckt.
Ignaz Buchmann, wie sein Bruder Aki Schustergeselle bei seinem Vater, insgeheim aber angehender Schriftsteller, zog achtzehnjährig die Konsequenzen und türmte in ein Vorhaben, das ihn letztlich nach zweijähriger Flucht über eine Mauer springen ließ. Mit einem Stechen in der Lunge und einer Idee in der Tasche. Zur Vollendung dieser Idee benötigte er Raffael Krupp, den Buchdrucker.
Ignaz musste plötzlich lachen, während er vor den pfeifenden Gewehrkugeln zu türmen versuchte, die ein Geräusch wie eine gerissene Geigensaite in seinem Trommelfell hinterließen. Mittlerweile war er des Flüchtens so überdrüssig, aber gerade deswegen auch so geübt, dass er schnell – obwohl nur mit einem Schuh bestückt – einen sicheren Abstand zwischen sich und seine Verfolger bringen konnte. Da er sich mittlerweile bewusst war, in welcher Gegend Warschaus er war, verfiel er trotz körperlicher Vollbelastung in ein hysterisches Lachen, das zusätzlich an seinen Bauchmuskeln zerrte. Wie grotesk das Leben doch ist. Er befand sich in einer teuflischen Zwickmühle, aus der er versuchen musste, unbemerkt wieder zu entkommen.
»Guten Tag. Bitte, schießen Sie nicht. Ich bin kein Jude.«
Ein Schauspiel der Komik. Unmöglich.
Seine Papiere hatte er vor einem Jahr verloren, als er bei einer Partie Poker in einem Wirtshaus im tiefen bayrischen Wald ein wenig Geld verdienen wollte. Er war ein guter Schafkopfspieler, jawohl, aber Poker? Da kannte er nur das Regelwerk. Natürlich halfen ihm seine Phantasie und ein unerträgliches Ziehen in der Magengegend, das man Hunger nannte, eine ordentliche Partie zu spielen. Seine Mitspieler, die meisten aus dieser Gegend, spuckten ihre Sätze in tiefstem Waldbayrisch auf den Tisch, dass selbst er, aus einem Vorort Münchens kommend, Probleme hatte, den Sinn darin zu erkennen. Aber Pokern ist ja kein Übersetzungstest, sondern ein Glücksspiel, dessen Regeln nicht zu schwer sind. Ein wenig Glück, seine unnachahmliche Art zu bluffen und letztlich eine Explosivkraft, die ihn vom Tisch in einem Schwung vor die Wirtshaustür hievte, wo er im Spurt das Weite suchte, würde dafür sorgen, dass er wieder eine etwas voluminösere Geldbörse sein Eigentum nannte. Dass Ignaz die Definition von Bluffen etwas überstrapazierte, erkannte ein Gast, der sich mit einem Bierglas in der Hand hinter Ignaz an den Tresen platziert hatte und das Gemurmel im Schankraum mit folgendem Satz durchbrach:
»Itz hod ea eing bschissn.«
Diese fünf Wörter weiteten Ignaz’ Pupillen. Auf eine Diskussion oder ein Vorweisen seiner nicht vorhandenen Unschuld hatte er weniger Lust, vor allem, da er als Durchreisender in dem vollbesetzten Wirtshaus die Sympathien nicht unbedingt auf seiner Seite hatte. Schon als er sich alleine an einen Ecktisch in der Nähe des Ausgangs hatte fallen lassen und ein Bier mit einem Wurstsalat bestellte, hatten sich dunkle Blicke an seine verlumpte Kleidung geheftet. Ursprünglich wollte er nur klassisch die Zeche prellen. Klofenster, Hintertür, durch den Keller flitzen, so was in diesem Stil. Hatte schon öfters geklappt. Dummerweise verwickelte ihn ein älterer Gnom mit einem dampfenden Kelch in seiner knorrigen Hand in ein Gespräch, bei dem er nur die Hälfte verstehen konnte, weil diesem ständig das lose Gebiss die Wörter abschnitt. Im Grunde wollte der Mann, der sich als »Girgl vom Hof« vorstellte, eindringlich wissen, wieso Ignaz nicht an der Front kämpfte, so wie seine drei Söhne, und »uns Deidsche« dem Sieg näher brächte.
»Bist doch jung. Stark krafte. Und zach schaust aus. Weast doch an Ivan weafa, wannst auf oan triffst.«
Ignaz schlängelte sich mit einem seiner vielen ausgedachten Gründe, wieso er nicht eingezogen wurde, aus dieser schon öfter erlebten prekären Situation.
Diesmal: Hüftschaden nach Unfall auf der Werft am Starnberger See. Dabei verzog er das Gesicht, während er sich demonstrativ über das Gesäß strich. Der »Girgl vom Hof« klopfte mit seinem Kelch gegen sein linkes Knie. Ein dumpfes Geräusch ertönte, das auf eine Prothese hinzudeuten schien. Sein Gefäß verlor Flüssigkeit, wahrscheinlich
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