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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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flackern und folgen dem Zeigefinger, der die Wörter einzufangen versucht. Obwohl er abgelenkt und dem Buch vollkommen zugewandt wirkt, füllen dicke, stille Tränen die Bullaugen des klobigen Brillengestells. August weiß, warum sie hier sind.
    »Ich hab noch mehr davon.« Brüchig und viel zu hell erklingt Zacharias’ Stimme.
    August schielt über den oberen Rand seiner Brille zu dem Mann, der nun sein Großvater sein wird.
    »Mehr?«
    »Ja.«
    »Mehr Exemplare von diesem Buch? Warum denn?« Die beiden Augenbrauen des Jungen verschwinden hinter dem oberen Rahmen des Brillengestells.
    »Nein. Nicht von diesem Buch. Mehr Exemplare dieser Reihe. Das Grimmsche Wörterbuch besteht aus zweiunddreißig Bänden. Dies ist nur einer davon. Ich habe aber auch andere Bücher. Viele.«
    »Wie viele?«
    »Tausende.«
    »Keiner hat Tausende Bücher.« August scheint erzürnt. Was wagt der Mann zu behaupten? In seinem Aufbrausen wirft er unvorsichtigerweise eine Teetasse um.
    »August, pass doch auf.« Heidi fängt die sich auf dem Tisch ausbreitende Flüssigkeit mit einer Serviette auf.
    »Kein Problem. August, darf ich dir was zeigen? Einen besonderen Ort?« Zacharias steht auf und fordert Augusts Hand. Augusts Augen weiten sich. Er drückt sich unsicher an seine Mutter. Heidi nimmt ihn aufmunternd in den Arm.
    »Los, August. Geh mit deinem Großvater.«
    Und jetzt passen Sie mal auf. Es gibt Momente, die verändern das Leben. Es klingt sehr kitschig, das gebe ich zu, und zu einem gewissen Teil auch klischeehaft, nur, diese Momente hat jeder von uns schon einmal erlebt, und deswegen bleibe ich dabei. Der das Leben verändernde Moment ist folgender:
    Großvater steht vor der Holzhütte im Garten, die August schon bei ihrer Ankunft wie ein grusliges Hexenhäuschen aus einer Bergsage verunsicherte und ihm ein mulmiges Gefühl vermittelte.
    Das Holzhäuschen ist mit unzähligen Wildtiergeweihen benagelt. Rehe, Böcke, Hirsche, Ziegen, Widder, Tod und Teufel hängen an den braunen Holzwänden, dass man meinen könnte, die Tiere aller deutschen Wälder kommen hierher, legen ihr Geweih ab wie alte Männer ihre Hüte, setzen sich an Theke oder Stammtisch innerhalb der gastlichen Hütte und trinken kräftig Bier und solches, da gerade ein »Wildkongress« oder »Der Tag des Fells« abgehalten wird. Oder in dem Holzverschlag wohnen siebzehn Jäger, die all ihre ergatterten Hornskalps trophäenartig postierten. Als Abschreckung vor ungemütlichen Störenfrieden. Quasi mit der Betonung: »Vorsicht vor uns. Wir zielen gut – treffen immer!« Dem ist aber nicht so.
    Doch wir wollen nicht abschweifen. Was hier zählt, sind die inneren Werte – und die haben es in sich.
    Zacharias öffnet die Türe seines Holzschuppens im Garten. August steht hinter ihm. Seine Augen sehen vorerst nur das abgewetzte Hosentextil von Zacharias Hinterteil. Bis der endlich zur Seite tritt.
    Ein Bild gräbt sich in Augusts Netzhaut, das ihn nie wieder loslassen wird. Tatsächlich viele tausend Bücher. Buchrücken neben Buchrücken. Geschwungene, geheimnisvolle Lettern geben Autor und Titel preis. In diesem von Tiergeweihen beschützten Holzschuppen sind Schätze gelagert. Buchschätze. Eine Geschichtentankstelle, wie Zacharias kichernd meint. Vier Holzwände. Vier Regale. Wie Ölsardinen in der Blechdose wohnen sie seit Jahrzehnten in Frieden in diesem Schuppen, den August anfangs für ein Gerätehäuschen hielt. Äußerlich wirken die Regale wohlgeordnet und still. Innerlich zappeln die Bücher. Die Wörter brodeln, die Handlungen brüllen und beißen, die Inhalte leben. Nicht nur die Gebrüder Grimm sorgen für diese Energie. Andersen, Bechstein, Wolf, Hauff, Hoffmann, G. Basile, C.Perrault, um die restlichen Märchengiganten zu nennen. Zacharias zählt die Namen auf, als seien sie seine besten Freunde. Aber es sind nicht nur die bekannten Größen dieses Genres. Viele vergessene Werke sind darunter.
    Einer von Zacharias’ größten Schätzen aber ist weltberühmt: Eine 1896 im Spamerverlag / Leipzig veröffentlichte Ausgabe der »Kinderund Hausmärchen« von Jakob und Wilhelm Grimm. Sechzehn Farbdruckbilder von Thekla Brauer unterstützen den Leser bei der Errichtung seiner Traumbilder. Es ist nicht der Marktwert des Buches, was Zacharias so stolz macht, es ist der ideelle Wert. Weil es ihr Märchenbuch ist, das von seinem Bruder und ihm – ihre Bibel der Kindheit.
    Zacharias hält das Buch mit beiden Händen unter Augusts Nase: »Das ist meine Bibel,

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