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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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wir wissen es bereits, vom Irrwitz errichtete Baulandschaft aus zwei Gebäuden. Als neutraler Betrachter würde man sagen: »Ja, die Hinzestraße – mhm. Jaja, nichts anderes als die Sommerstraße oder die Fischergasse«, würde man nicht, kurz bevor die geteerte Straße als Feldweg im Dickicht eines Mischwaldes verschwindet, bei den sonderbaren Gebäuden stehen bleiben. Hier der Wal aus Ziegelstein und Putz, dort die Hütte aus Holz und Horn. Beides errichtet von Zacharias Locher. Beides nun im Besitz von August Locher.
    Das »Haupthaus« unterscheidet sich insofern durch seinen architektonischen Baustil von dem der anderen Wohngebäude der Straße, als es eben nicht architektonisch ist, sondern eine organische Form aufweist und aus mit grauem Rauputz überzogenen Ziegelsteinen besteht. Somit erlangt das Gebilde ihre weiche, rundliche Form.
    Der Wohn-Wal bemüht sich sehr um das Aussehen von Moby Dick. Die Bemühungen tragen Früchte, zumindest bei den Betrachtern, die Herman Melvilles Buch oder John Hustons Film kennen. Der Rest wundert sich gewaltig, aber auch die Moby-Dick-Kenner fragen folgerichtig: Was macht ein Wal mitten in Niederbayern?
    Architekturkenner ziehen Vergleiche mit Rudolf Steiners antroposophischen Bauten, nennen beispielsweise das zweite Goetheanum als Vorbild, auch dieses sei den von der Natur gegebenen Formen nachempfunden. Keine geraden Wände oder sonstige dem herkömmlichen Wohnsinn entsprechende Eigenschaften. Kein zum Dreieck geformtes Dach darauf.
    Moby Locher, wie ich Augusts Wohngebäude lapidar betiteln möchte, folgt aber weniger dem expressiven Steiner als vielmehr dem fabulierenden Melville. Sieben rechteckige Fenster sind an dem walfischartigen Bau angebracht. Jeweils drei auf gleicher Höhe an den Längsseiten, eins als Kippfenster auf der sich ein wenig verjüngenden »Rückseite«, die zum Wald hin in eine grob dargestellte Fluke mündet. Das Haus betritt man an der fast quadratischen »Kopfseite« des Wales, durch das Maul sozusagen.
    Bei allem extravaganten Idealismus von Zacharias Locher – das Sanitärsystem bewegt sich funktional betrachtet im absoluten Normalbereich. Zufluss, Abfluss, Bad- bzw. Toilettenarmaturen mitteleuropäischer Standard der 1960er Jahre. Nur dass man die Ausscheidungsvorgänge an dem Ort verrichtet, an dem in etwa ein lebendiger Wal seine Ausscheidungsorgane hätte.
    Ein alle Pflanzen des Wildwuchses beinhaltender Garten umgibt das graue Gebilde. Wenn leichter Wind weht, scheint es, als liege der gestrandete Wal auf grünen, sanft wogenden Wellen. Bei Regen verstärkt sich das Bild, und bizarr und unheimlich wirkt der Anblick an dunstverhangenen Herbstnachmittagen, an denen man beim Passieren des Grundstücks ein tiefes Raunen zu vernehmen meint. Wie die klangliche Kreuzung eines düsteren Dampfschiffnebelhorns und das bittere Heulen eines Pottwals im Nahkampf mit Harpunierern klingt das. Oder echot gar Kapitän Ahabs »Tod dem weißen Wal!« durch den Nebel? Unheimlich, wenn Sie mich fragen.
    Ein gerader, gestampfter Kiesweg verbindet den Eingang des »Hauses« mit dem Eingang des Grundstücks. Das Grundstück misst etwa 33 auf 40 Meter. Vielleicht sind es auch 32,77 auf 40,2807446 Meter, denn das Ergebnis ist das gleiche.
    Die Rückseite des Gartens ist mit hohen Nadelbäumen bepflanzt. Sie greifen über den das Grundstück begrenzenden Drahtzaun nach den Bäumen des dahinterliegenden Waldes, um sich die Hände, vielmehr Äste zu reichen. Als wollten sie sich mit ihren Zweigen über die Abgrenzung ziehen, mit leichten Sätzen über den Zaun in Richtung Wald verschwinden. Zu ihren holzigen Gefährten. Aus Angst vor Moby Locher.
    Die rechte Gartenseite ist ebenso eingezäunt, dahinter verläuft eine wild wuchernde Wiesenfläche noch einige Meter weiter, um dann tangential vom Wald verschluckt zu werden. Die Wiese innerhalb der Umzäunung wird etwa zehn Meter vom Wohnhaus entfernt von einem feingestutzten, die Halme auf wenige Millimeter getrimmten Rasenkarree unterbrochen, wie es dem Klischee nach der Großteil der Engländer mit Sorgfalt und durch Anwendung von Lineal und Nagelschere pflegt. Auf diesem kleinen Hauch von Wimbledon steht der Holzschuppen wie eine Miniaturausgabe einer alpenländischen Bergbehausung, vier auf drei auf zwei Meter fünfzig – hier mit Giebeldach aus Holzlatten, also nix mehr Steiner, nix mehr Melville, eher Ganghofer. Der Eingang des Wohnwals, die Tür des Holzschuppens und das Gartentor bilden ein gleichseitiges

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