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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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Dreieck mit jeweils 12 Meter Seitenlänge, wobei die Seite c gleichzeitig den Weg zwischen Gartentor und Wohnhauseingang darstellt. Gleich hinter dem Gartentor auf der linken Seite befindet sich ein roter Rosenstrauch, der ein wenig Farbe in den Wildwuchs zaubert.
    August Locher geht dem Handwerk des Buchbinders in einer Druckerei nach, die in einer kleinen industriell bestückten Straße in einem Vorort der Stadt liegt. Den Beruf erlernte er von Zacharias, der ihm die Tricks und Tipps des Bindevorgangs lehrte, Hingabe, Genauigkeit und Respekt vor dem Papier einimpfte. August ist leidenschaftlicher Buchbinder, geschickt, akribisch, filigran. Sein Beruf ist Berufung und Lebensaufgabe. Da macht ihm keiner was vor. Auch wenn ihn seine dumpfen Druckerei-Kollegen belustigt nachäffen.
    August Locher, mittlerweile 38 Jahre alt, ist halt ein Eigenbrötler, ein Jazzliebhaber, ein Tollpatsch, ein Keine-Freunde-Besitzer, ein Märchen- und sonderbare Geschichten-Narr, ein talentierter Radfahrer, äußerlich betrachtet leider auffällig, im Sozialgefüge leider unauffällig, gemieden und ausgestattet mit einer unsportlichen Figürlichkeit. August Locher ist eine gedrungene, fast dicke Erscheinung. Er misst nicht mehr als einen Meter und 65 Zentimeter. Diese physischen Merkmale sind nicht ungewöhnlich, würden nicht noch ein paar amorphe Merkmale hinzukommen. August hat einen Schiefhals, ist von leicht gebückter Statur – Skoliose, keine Frage –, und er hat vermutlich ein längeres linkes Bein, was seinem Gang eine auffallende Ähnlichkeit mit einem kniegeschädigten Pinguin verleiht. Dies hindert ihn jedoch keineswegs, seiner antiaerodynamischen Radfahrerstatur ordentlich Pedalkraft entgegenzusetzen. Seinem Fahrrad, dem von dem Großvater übernommenen Adler, verleiht er Flügel, keine Frage. Bitte, erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kurze Anekdote.
    Vor etwa einem Jahr, es war im Sommer, machte er einen kleinen Radausflug zum Wanderpfad »Rübezahl« im Behringer Forst. In der prallen Sommerhitze überholte er eine Truppe Sportradler in magentafarbenen Trikots, die sich im Belgischen Kreisel abmühten. Locher flog in seinem grünen Tarnparka an ihnen vorbei, leicht beschämt grüßte er. Die Sportler pfiffen und grunzten und Schweiß schoss ihnen aus den Helmen. Sie sahen mager aus. Wie ausgedörrte, von körperlichen Strapazen gezeichnete Sklaven einer Maschinerie, die bestimmt nicht vor leistungssteigernden Medikamenten zurückschreckt.
    Locher hat gute Beine. Ehrliche, ordentliche Pakete. Sein Rad ist stets gut geölt. Schnittiges Alteisen. Großvater hatte im Scherz immer seinen nicht vorhandenen linken Zeigefinger, den er »im Krieg gelassen hat«, gehoben und gewarnt: »Unterschätze nie die Wildheit eines erfahrenen Drahtesels!« Wir wissen, der Esel ist ein Adler.
    Einen Kilometer hatte August die Rennradler bereits zurückgelassen, sie waren zum lila Punkt geschrumpft, da erblickte er einen leeren, weißen Zettel im Graben. Der stach ihm ins Auge wie eine Stricknadel in die Masche.
    Vollbremsung, Kapuze über den Kopf geschossen, abgesprungen, Blatt Papier aufgegriffen. Wer entsorgt hier ein Blatt Papier? Kann man ja ein Gedicht drauf schreiben. Er rollte es in seine Innentasche.
    Interessant, nicht? Adlerfahrrad und Adleraugen. Der geschulte Buchbinderblick fürs Papier ist geschärft. Obwohl er exorbitante Sehhilfen trägt. Eine Brille mit etwa 17 Dioptrien. Weißbiergläsern nicht unähnlich. Was natürlich seinen Anblick etwas befremdlich erscheinen lässt. Seinen Ausblick sowieso. Also Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Umsichtigkeit und Weltblick betreffend. Sein Haar ist wie ehedem kurz gestutzt, wie der Rasen, der seinen Holzschuppen umgibt, farblich aber anders, nämlich dunkelblond-silbrig. Ein träger Ansatz eines Scheitels links ist noch leicht erkennbar. Van Gogh hatte so einen Haarwuchs – kurz bevor er verrückt wurde.
    Lochers Kleidung ist eine Beleidigung für jeden modernen Textildesigner. Bunt ein Fremdwort. Er ist eigentlich der Gaultier des Secondhand-Metiers und er sieht aus wie sein eigener Großvater. Haute Couture aus Eigensinn – aber durchaus mit Konsequenz geschnürt. Wohlfeile, konservative, alte Stoffröhren, von Hosenträgern gestützt. Hemden, Pullunder, Strickjäckchen in Braun, Beige, Schwarz, Weinrot und mit jeder erdenklichen Bemusterung, die heutzutage nirgends mehr aufzufinden ist. Zöpfe, Schottisch, Netz et cetera. Alles blass und ausgewaschen. Dunkelgrün auch

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