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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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weiß er nicht. Noch nicht, jedenfalls. Aber bitte, geben Sie mir etwas Zeit.
    »Entschuldigung.« Eine weibliche Stimme ertönt zaghaft. Zacharias Locher erhebt sein Haupt und blickt erstaunt in Richtung der Bäume. Mit weiblicher Stimme hat noch kein Baum zu ihm gesprochen.
    »Verzeihung. Hier am Tor.«
    Zacharias Locher dreht den Kopf und sieht am Eingangstor seines Grundstücks eine junge Frau stehen, die ihm zuwinkt.
    »Ja?«, ruft Zacharias Locher. Er bleibt, wo er ist. Er bekommt nie Besuch. Bestimmt verklingelt, die Dame.
    »Äh…« Die Frau rüttelt am Stahltor und setzt dabei eine Miene auf, die zu sagen versucht: Geschlossen. Offenbar verlangt der ungebetene Besuch doch Eintritt. Locher brummt leise: »Was wollen S’ denn überhaupt?« Und etwas lauter: »Fest dagegendrücken. Ach, Moment. Ich komme.«
    Locher öffnet mit einem heftigen Ruck. Erst jetzt bemerkt er den kleinen Jungen an der Hand der Frau. Der Bub wirkt fast geblendet von dem breiten, silbernen Armreif, den seine Mutter am rechten Arm trägt.
    »Verzeihen Sie bitte die Störung. Sind Sie Zacharias Locher?« Die Frau wirkt schüchtern, aber freundlich. Sie ist einfach und stilvoll gekleidet.
    Locher antwortet neugierig: »Ja, das bin ich. Was gibt’s denn?«
    Er richtet seinen Blick von der Frau, deren Gesicht ihm seltsam bekannt vorkommt, auf den Jungen. Der mag etwa zehn Jahre alt sein. Sein Haar ist stopplig. Seine Statur etwas schief und aus dem Lot geraten, so der Gesamteindruck. Ein etwas zu großer dunkelgrüner Skianorak der Marke Elho lässt, ob der sommerlichen Temperaturen, selbst den Betrachter schwitzen. Wie mag es denn erst dem Jungen ergehen, denn darunter trägt er eine Art Kommunionsanzug in dunkelblauem Cord. Auf seiner Nase sitzen zwei leselupenartige Brillengläser, die seine Augen riesig groß erscheinen lassen.
    »Der arme Bub sieht doch gar nichts«, fällt es unverschämterweise aus Zacharias Mund. Sozialer Kontakt ist nicht seine Stärke. Woher auch, so etwas kennt er nicht. Nur Ehrlichkeit. Der Junge sieht aber auch nicht aus, als wäre er der, der auf dem Pausenhof seinen Bandenmitgliedern befiehlt, die Gegner mit Brennnesseln auszupeitschen, sondern eher wie der, der ausgepeitscht wird.
    Die Mutter hat die ungewollte Frechheit von Zacharias überhört. Zacharias fragt den eingeschüchterten Jungen mit auf ihn gerichtetem Zeigefinger: »Sag mal, schwitzt du nicht?« Der Bub zuckt nur mit den Achseln. Frechdachs.
    »Sie sind Zacharias Locher?«, fragt die Mutter erneut.
    »Jaja. Zacharias Locher. Wohnhaft hier in der Hinzestraße zwölf. Geboren neunzehnhundertfünfundzwanzig in Freising. Und wer bitte sind Sie?«
    »Mein Name ist Heidi Becker. Ich bin Ihre Tochter.«
    »Na, wenn das so ist, dann kommen Sie doch rein… Moment mal… was haben Sie gerade gesagt?«
    Die riesigen eulenartigen Augen hinter den starken Sehgläsern wandern neugierig durch diesen seltsamen Raum ohne Ecken, während die Hände unterm Tisch Sicherheit suchen. Der Junge greift nach der Hand seiner Mutter. Heidi Becker, sich fragend, ob die Reise hierher eine Entscheidung war, die sie bereuen würde, mustert ebenfalls das Interieur. In welch surrealem Wohnhaus sie sich doch befinden. Sie sitzen tatsächlich im Inneren eines Wals. Einen aus Ziegeln und Putz geformten Wal mit fünf Zimmern. Nur Jonas lebte im Bauch des Wals, meinen Sie? Nein, auch ein paar andere. Zum Beispielt Zacharias Locher.
    Aus der Küche erklingen Geräusche von siedendem Wasser und klappernden Tassen.
    »Mama, kuck mal.« Der Junge deutet auf ein Buch, das geöffnet auf dem Wohnzimmertisch liegt. Es ist Band drei des »Deutschen Wörterbuchs« von Jakob und Wilhelm Grimm. Der Bub beginnt neugierig, jedoch mit einer gewissen Vorsicht vor Fremdeigentum, darin zu blättern.
    »Hier.« Augusts Kopf neigt sich gegen das Schriftstück. »Fabelhans: …wenn ihm ein Fabelhans von Drachen spricht, die auf hohen Felsen und in zerstörten Bergschlössern hausen.« Die Brille fährt hoch. »Drachen, Mama.«
    »Schscht, August, Herr Locher kommt… also… dein Großvater.«
    Zacharias Locher stellt klirrend und zitternd ein Tablett mit einem dreiteiligen Teeservice und einem Teller voller Butterkekse ab.
    »Bitte schön. Entschuldigung. Ich hab nicht oft Besuch. Und schon gar nicht… schon gar nicht von… von Verwandten. Von niemandem eigentlich. Und jetzt…«, Locher kratzt seinen grauen Kopffilz und zieht eine Stan-Laurel-Miene »…jetzt kommt meine Tochter samt Sohn, von

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