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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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angenähten Flügeln, ein Honigglas, Doktor Greif mit seinen weißen Handschuhen, Walter Bantumi, Zacharias Buchmann, Pip – ziemlich deutlich und plötzlich das Mädchen, das er auf einem Foto in seiner Tasche trug. Es schmollte, wie auf dem Foto. Die Tränen, die man auf dem Bild jeden Augenblick erwartete, kullerten ihr über die Wangen. Ignaz’ Gehirn schien sich kurz zu erholen. Er bemühte seinen gefühllosen Körper, die Schachtel aus der Ziegenhaartasche, die lose um seinen Körper baumelte, zu befördern. Er riss mit großer Anstrengung den Deckel ab. Zittrig fingerte er nach dem Foto des Mädchens. Es fiel zusammen mit seinem treuen, teuren Schriftbuch in den Staub. Beim Aufprall war es ihm, als ob das Buch »Auf Wiedersehen« rief.
    Ignaz krampfte.
    Ein Gefangener, der an eine Metallstange angekettet war, die einer Maschinenpistole glich, ergriff das Buch.
    Ignaz betete. Seine Augen bluteten. Ebenso sein Herz.
    Der Mann riss einzelne Seiten aus dem Buchmannbüchlein, während er auf den blutenden Ignaz Beleidigungen prasseln ließ. Der Wind trug die Geschichten von Ignaz Buchmann in die Welt.
    Er wollte dies auch, aber anders.
    Sein Plan erlosch wie eine Flamme im Vakuum. Der brüderliche Eid verglühte.
    Ein Gefangener war das nicht, bemerkte Ignaz nun. Ein letztes geistiges Aufbäumen.
    »Ihr beschissenen Deutschen!« Relativ klar und deutlich schickte er die Worte in den roten Himmel, in dem er nur noch schemenhaft den Buchfledderer erkannte. Letzte Pulsationen durchzuckten ihn.
    Das Märchen vom Nazi und Ignaz war beendet. Kraftlos und müde schickte er noch einen letzten Satz über seine Lippen.
    »Ihr schmort in der Hölle.«
    Dann kam ein Wort: Drecksjude.
    Dann kam der Pistolenlauf.
    Dann kam die Dunkelheit.

TEIL ZWEI
DIE THEORIEN
DES AUGUST LOCHER
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    Ein Ende. Ein Anfang
    Sehen Sie den da? Den, der dort unten auf einem Altherrenrad der Marke Adler, Baujahr 1934, strampelt, als wolle er seinem eigenen Schatten entfliehen? Der in einem ihm nicht zugetrauten Tempo durch die Straßen fliegt, als wäre er im Begriff, sein gelbes Trikot vor dem ihm im Nacken sitzenden, Zähne fletschenden Peloton zu verteidigen? Der aktuelle Tour-de-France-Sieger Laurent Fignon, wir schreiben das Jahr 1984, würde jedenfalls mit der Zunge schnalzen. Zweimal. Einmal aus sportlicher Sicht des hohen Tempos wegen und einmal für das Kuriosum dieses Anblicks, da die hagere Statur des Radlers nicht mit der Geschwindigkeit des Oldtimers, auf dem er Wirbel macht wie eine Windmühle, zu korrelieren vermag. Verfolgt wird er nicht.Trotzdem staubt er da alleine durch die Straßen, als wäre der Teufel hinter ihm her.
    Da, jetzt sticht er in die Einfahrt dieses seltsamen Grundstücks mit den beiden grotesken Gebäuden darauf. Das eine sieht von hier oben aus wie ein Wal. Das andere steht etwa fünfzehn Meter abseits davon und erinnert an eine kleine Berghütte. Der strampelnde Derwisch hüpft zackig vom schwarzen Drahtesel, parkt das Gestänge, ohne seine eigene Bewegung zu stoppen, an der Bretterwand der Hütte und marschiert quer durch seinen verwilderten Garten. Er bleibt vor einigen Bäumen stehen, die am Ende seines Grundstücks aufgereiht sind. Gleich hinter diesen Bäumen erstreckt sich ein Zaun aus Draht. Gleich dahinter beginnt der Wald. Was tut der Mann denn da? Spricht er etwa zu den Bäumen?
    Aber bitte, schauen wir uns den Herrn doch mal näher an und verlassen diese Vogelperspektive als Betrachter. Los, wir wollen da mal hin, die Gegend etwas genauer unter die Lupe nehmen. Bodenperspektive einnehmen!
    Hören Sie, er spricht tatsächlich.
    Fahrradmann: »Es stehn viel tausend Wälder auf diesem Erdenrund; sie kränzen Höhn und Felder…«
    Irgendwoher: »… und manchen stillen Grund.«
    Verrückt. Haben Sie das auch gehört? Beim letzten Satz des Gedichts von Friedrich Hebbel hat der Mann, der sich Zacharias Locher nennt, seine Lippen nicht bewegt. Ist der Mann Bauchredner? Oder sitzt da ein unsichtbares Vis-à-Vis hinter den Bäumen? Oder war es gar der Wald selbst, der ihm geantwortet hat? Was denken Sie?
    Zacharias Locher steht in sich ruhend im Garten. Ein graumelierter Fastsechziger vor einer Heerschar Bäume. Wie ein General, der seine letzten Befehle überdenkt, kurz bevor er zur großen Schlacht bläst. Zacharias Locher ist aber kein General. Er ist Buchbinder. Von Beruf. Und Großvater eines zehnjährigen Jungen namens August. Nur, und das dürfen Sie mir gerne glauben, das

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