Grimms Erben
denen ich noch nie gehört habe.« Locher blickt die beiden schüchternen Menschen an, die an seinem Wohnzimmertisch Platz genommen haben. Heidi erwidert traurig und fast schuldbewusst seinen Blick, als wäre sie es gewesen, die dieses Zusammentreffen seit Jahren zu verhindern versuchte. August blättert eifrig in dem Wörterbuch der Gebrüder aus Hanau.
Locher flüstert ungläubig in den Raum hinein: »Eine Tochter und ein Enkel. Grimm und Ingrimm, so etwas gibt’s doch nicht.«
Und wie es das gibt. Ich will es Ihnen erklären.
Zacharias Locher war es vergönnt, ein kurzes Jahr lang eine Liaison mit einer hübschen Kramertochter namens Hilde zu haben. Das war im Jahre 1956, in der Stadt Deggendorf. Hilde, die aber eigentlich nach Größerem strebte, und zwar nach den Brettern, die die Welt bedeuten, zischte noch vor Ende des Jahres ab. Nach oben. Nach Norden. Zusammen mit dem Münchner Theaterschauspieler Friedhelm Becker, der im Logensaal der Hamburger Kammerspiele eine Rolle zu besetzen hatte. Sie brauchen nicht nach seinem Namen zu forschen, sein Schauspiel war relativ unerfolgreich. Hilde nahm wenig aus ihrem alten Leben mit, doch ein Souvenir aus dem Bayernland blieb ihr. Eine Frucht, zu deren Entstehen Zacharias’Lende beigetragen hatte. Auch wenn Heidi im Glauben gelassen wurde, dass Friedhelm Becker ihr leiblicher Vater sei. Dieser ging nach Übersee, als Heidi acht Jahre alt wurde. Talentfreier Schauspielexport, weshalb sich seine Spur bald verlor. Hilde und Heidi blieben zurück.
Bevor Mutter Hilde vor fünf Jahren verstarb, erzählte sie Heidi die Wahrheit. Ihr biologischer Vater sei ein gewisser Zacharias Locher aus Deggendorf. Vorerst war Heidi die Neuigkeit ziemlich einerlei. Der Verlust der geliebten Mutter schmerzte zu sehr.
Heidi wurde selbst früh Mutter. Sie war gerade siebzehn, als Sohn August auf die Welt kam. Augusts Vater war ein Zauberer – ein Mitglied des Wanderzirkus »Carl Krenz«. In einem Weinlokal traf Heidi den Magier eines Abends nach der Vorstellung. Er zog einige Blumensträuße und Komplimente aus seinem Hut. Dann folgte die Vorführung seines größten Kunststücks, des Zaubertricks »Sich selbst aufbauender Zeltmast in Hose«. Und schon war der Bursche samt Hut und Umhang auf und davon. Und August in Heidis Bauch. Das war vor zehn Jahren.
Nun, nachdem sie August allein mit absoluter Liebe und Hingabe, mit Mühen und Strapazen bis hierher begleitet hat, kann sie nicht mehr weitergehen. Heidi wird in naher Zukunft an Krebs sterben. Eine kurze und unerbittliche Krankheit. Entschuldigen Sie das trocken dargestellte Schicksal, aber Lungenkrebs malt keine schönen Bilder.
Heidi verfügt über keine Verwandtschaft mehr. Die Vorstellung, August wohne nach ihrem Tod in einem Heim, gefällt ihr kein bisschen. Sie muss die Maßnahme ergreifen und ihren unbekannten, leiblichen Vater um Hilfe bitten. Einen Versuch ist es wert. Tief im Inneren loderte obendrein das Verlangen, ihren leiblichen Vater kennenzulernen.
»Kein Telefonat, kein Brief hätte auszudrücken vermocht, um was ich dich bitten wollen würde. Deswegen bin ich hier, um dich kennenzulernen, von Angesicht zu Angesicht.«
Was für eine Botschaft für den alten Locher.
Er ist Opa eines Jungen, der mit seiner todkranken Tochter irgendwo in Norddeutschland lebt. Für einen, der sagt, zu Hause ist es am schönsten, ist Norddeutschland wie Nordkorea – am Ende der Welt. Unbegreiflicher aber ist der ganze Rest der Geschichte. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter mag noch so angespannt, schludrig, gleichgültig, reserviert, gehemmt, nicht vorhanden, offenherzig, innig, unsäglich, schwammig, lieblich, normal, gut oder schlecht sein – kein Vater sollte seine junge Tochter zu Grabe tragen. Noch dazu, wenn er sie gerade erst kennengelernt hat.
Und doch, es fühlt sich nicht fremd an. Sondern schön. Wie ein weiches, sanftes Märchen. Heidis feingliedrige Finger ruhen in Zacharias’ gegerbter Hand. Ein Bund des Vertrauens. Eine bejahende Antwort auf Heidis Bitte. Weder Vater noch Tochter schämen sich der leisen Tränen. Heidis glänzender Armreif reflektiert die durch das Fenster hereinfallende Abendsonne und leuchtet den Bauch des Wals rötlich schimmernd aus. Ohne Worte verharrt die kleine, neuformierte Familie für einige Minuten. Augusts kleine Faust vergräbt sich unterm Tisch in der linken Hand der Mutter. Seine eigene Linke fummelt gierig über die geheimnisvollen Seiten des Buches. Die großen Augen
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