Grimms Erben
August. Jede Geschichte hat ihre Moral. Und hier, mein Lieber, haben die Geschichten ihren Ursprung.«
August legt seine Hand auf den Einband, und als würden alle Feen, Hexen, Ritter, Prinzessinnen, Könige und Fabeltiere durch Augusts Blutkreislauf rauschen, um ihr Geheimnis und ihren Zauber in ihm abzuladen, durchströmt ihn mit einem Mal eine unerklärliche Wärme. Das Buch scheint zu glühen. Aus den Ecken der Hütte und zwischen den vielen Buchritzen erscheinen geisterhafte Fabelwesen, verhutzelte Holzkreaturen, schemenhafte Papierkobolde. Sie alle schlagen artistische Kapriolen wie unter einem bunten Zirkuszelt. Meine Damen und Herren, Manege frei für die phantastische Bibliothek der Träumerei. In seinen Ohren rauscht und surrt es, als würden all diese Gestalten ihm applaudieren, ihn begrüßen in dieser neuen Welt. Und wissen Sie was, genau so ist es. August weiß um den Zauber des Augenblicks, aber in diesem Moment ist sich der zehnjährige August auch der Tragik bewusst: Das Ende meiner geliebten Mutter bedeutet für mich den Anfang eines unendlichen Abenteuers.
Großvater Zacharias streicht sanft über den Kopf des Buben. Er drückt ihm den alten Papierschatz in die Arme: »Saug es auf, August. Saug es auf!«
Seine Tochter weiß, hierherzukommen war die richtige Entscheidung. Zacharias wird August großziehen, ihm die Welt erklären, bis er selbständig ist.
Wer nun denkt, August blühe das Leben eines Einsiedlers, der solle sich belehren lassen. Eines Besseren.
Nach drei Tagen, in denen sich Heidi, August und Zacharias durch die Vergangenheit gewälzt, die Gegenwart genossen und sich die Zukunft ausgemalt haben, verabschieden sich Mutter und Sohn vom Großvater. Der Zustand der Mutter wird über den Zeitpunkt von Augusts Rückkehr entscheiden. Am Gartentor fassen sie sich alle an den Händen. Heidis Armreif hat jeden Glanz verloren. Stumpf und matt reflektiert er die Sonne. Ihr Blick ist müde. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, liegt Augusts Rückkehr nicht in weiter Ferne.
Zacharias drückt August an sich. Die Umarmung zwischen den beiden hat was Freundschaftliches, Brüderliches, Geheimnisvolles, Gleichgesinntes. Zacharias und Heidi umarmen sich auch. Zum ersten und zum letzten Mal. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich, unfassbar, unverständlich. Es fallen keine Worte. Wie auch? Die Tränen ersticken jeden Laut.
Einen Monat später zieht August zu Zacharias. Von Hamburg nach Obermietraching. In den Händen zwei Koffer mit seinen Habseligkeiten. Um den Hals eine Holzfigur an einem Lederband. Ein letztes Geschenk seiner Mutter, der heilige Eustachius ist von nun an sein stetiger Bewacher. August ist erfüllt von tiefer Trauer, vom tauben Gefühl der Ungerechtigkeit, und nur die vage Hoffnung, Großvater könnte ihn mit auf literarische Reisen nehmen und in zauberhafte Welten entführen, gibt ihm ein wenig Zuversicht. Genau das tut Großvater.
Bis zum Sommer des Jahres 1996.
Es war ein Samstag, das weiß August noch genau, weil sie nicht in die Buchdruckerei mussten. Weil er sich beim Aufstehen schon gefreut hatte über einen Nachmittag mit Großvater in den Wäldern. Über einen Abend mit gediegener Jazzmusik. August bemerkte jedoch schnell, weit und breit im ganzen Wal kein Zacharias. Nur auf dem Küchentisch ein Brief mit folgenden, von Hand geschwungenen Sätzen darauf:
Lieber August,
es drängt und bestürmt mich ein Versprechen, das ich zu halten geschworen habe. Ein Eid, dessen Erfüllung in meinen Händen liegt. Wann ich wiederkomme, weiß ich nicht. Gehe du weiter aufrichtig und aufrecht durchs Leben. Und merke: Eine Moral muss es geben! Bis bald.
Auf Wiedersehen,
Dein Zacharias
August erklärte sich diesen plötzlichen Abschied als vorübergehend.
Bis bald. Auf Wiedersehen.
Er wartete ab, die Dringlichkeit von Großvaters Aufbruch stand für ihn außer Frage. Obwohl er gerne gewusst hätte, warum.
Zurück blieben die Gedanken an gemeinsame Tage. Zacharias’ innige Verbundenheit mit Bäumen und Wäldern, die August liebevoll adaptierte. Zacharias’ Kleider, die er seitdem auftrug, und das mit erhabenem Stolz. Die Liebe zu Geschichten und die Liebe zur Buchbinderei, eine Aufgabe, die er akribisch verrichtete. Sowie eine umfangreiche Plattensammlung an Jazzmusik. Ein Wal. Und eine Holzhütte. Zacharias’ Haus und Hof, in dem August seitdem alleine wohnt, und das sehr gern.
Der graue Wal und der olivgrüne Bär
Am Ende der Hinzestraße befindet sich das Locheranwesen. Eine,
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