Grimms Erben
vorhanden. Das ist immer dabei, sofern August Locher sich unter freiem Himmel bewegt. Denn seinen grünen Bundeswehranorak hat er zu jeder Jahreszeit, bei jeder Tagestemperatur, zu jedem Anlass an.
Im Sommer, damit die Sonne einem nicht die Haut verbrennt, im Winter, damit die Eiseskälte einem nicht die Haut verbrennt. Im Herbst wegen des unheimlich eklig nassen Wetters, das einem die Haut verbrennen kann (Gefahr sauren Regens!!!). Und im Frühling, weil man ja im Frühling auch Haut hat. Eine typische Locher-Theorie.
Seine blind zusammengewürfelten Textilfragmente passen insofern immer zusammen, weil nach millionenfachem Waschen jede Farbe den gleichen abgenützten, falben, verfusselten Ton aufweist. Und darüber wird sowieso der olivgrüne Bundeswehranorak geschmissen. Die textile Selbstdegradierung beruht nicht auf Kindheitstraumen oder Unwissenheit über die Existenz vielartiger Kleidungsgeschäfte, sondern ist einfach ein Akt einer bestimmten persönlichen Zuneigung. Das will ich ein wenig später deutlicher erklären. Vorerst bleibt festzuhalten: So wenig sich die Leute um eine Bekanntschaft mit August Locher kümmern, so wenig interessiert es Locher, wie er auf sie wirken mag. Eigentlich wirkt er auf den ersten Blick wie eine unglückliche Deix-Karikatur. Ein Mann, vom Schicksal benachteiligt. Der zweite Blick ändert an diesem Eindruck auch nichts. August Locher ist eine traurige Erscheinung. Eine graue Maus oder besser – ein olivgrüner Bär.
Wenn er recht eilig und hektisch sein Haus verlässt, im Schuppen sein Fahrrad holt und durch das Gartentor davonsaust und es zufälligerweise noch zutrifft, dass ein Beobachter dieses Vorgangs nicht ganz genau hinkuckt oder am Vortag betrunken war, dann könnte dieser annehmen: Der große graue Wal spucke einen kleinen olivgrünen Bären aus – zusammen mit einem Esel aus Draht.
Und überhaupt, hier Wal – da Berghütte, die Diskrepanz zwischen den beiden häuslichen Errichtungen ist groß und befeuert zusätzlich die Phantasie des Beobachters.
In den neunziger Jahren wurde das Locheranwesen einmal fälschlicherweise als Erwin-Wurm-Kunstwerk deklariert. Tatsächlich, da müssen Sie nun nicht so ungläubig den Kopf schütteln. Der österreichische Skulpturbildner stellt seine Werke an den ungewöhnlichsten Orten aus. Das Locherhaus solle einen überdimensionalen Radiergummi mit Schwanzflosse darstellen, der zu Wurms sogenannten »Fat«-Skulpturen zählt, hieß es in Fachkreisen. »Melted Rubber with Fluke«. Eines Tages standen Studenten der Kunstakademie München fotografierend vor Lochers Gartenzaun und diskutierten über Wurms Auffassung von experimentalistischer Gegensätzlichkeit. Wer dieses Gerücht in die Welt setzte war niemals aufzuklären.
Die Menschen der Umgebung urteilen schlecht über die komische Immobilie am Ende ihrer Siedlung. Es wäre seit Bestehen ein schrecklicher Klecks in ihrem schönen Wohngebiet. Ihr Problem ist, dass dieser hässliche Klecks dort schon seit Jahrzehnten existierte, als sie selbst mit ihrem neuen Eigenheim in die Bauphase starteten.
Es passt nicht in ihren wohnlichen und kinderfreundlichen Ort. Topographisch gesehen ein auffallend wunder Punkt. Insgeheim ist den Bürgern klar, dass darin irgendwelche geheimnisvollen Grausamkeiten vonstattengehen. Man vermutet mysteriöse Vorgänge, dunkle Geheimnisse, unerklärliche Machenschaften und fragliche Zustände liederlicher, asozialer oder bedrohlicher Art. Wobei niemand dieser Beschuldiger je eines der beiden Gebäude betreten hätte. Niemand kann diese Vorwürfe jemals bestätigen, beweisen oder gar konkretisieren.
Trotzdem warnt man seit je vor den Bewohnern und meidet sie.
Dabei wollte von Anfang an niemand die unmittelbare Nähe von Zacharias Locher suchen, der sich Ende der fünfziger Jahre am Waldrand dieser Gemeinde sein vieldiskutiertes Zuhause aufgebaut hat.
Über einige Ecken war Zacharias an dieses günstige Fleckchen Erde geraten. Aber das Wirtschaftswunder, der wachsende Wohlstand, die Babyboomer – es war einfach nicht zu verhindern. Im Jahre 1958 begann er seinem literarisch-romantischen Ansatz folgend Ziegel auf Ziegel zu setzen, bis das Wohnhaus nach Melville’schem Bebauungsplan errichtet war. Und wie es dem bürokratischen Auge samt seiner Bebauungsplanvorschriften entging, bleibt eines der vielen ungelösten Rätsel.
Über die Jahre kamen die Familiengebäude Zacharias Lochers Grundstück immer näher. Wie lästige Krabbelinsekten kamen sie
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