Grimms Erben
es nicht noch einmal wagen, es zu öffnen.
Zacharias wusste tausend und weitere eintausend Abenteuer, die er August erzählte. Aus dem Stegreif, aus Büchern, von Blättern ablesend, aus den Tiefen seiner Erinnerung hervorgeholt. Frisch, bildhaft, bewegend, bunt, spannend. Er hört Großvaters Stimme deutlich, wie sie summt und singt und Wörter durch den Raum segeln lässt. Kleine Wörter, die große Taten malen. Große Wörter, die wie Riesenräder aussehen, sich wie Bergmassive anhören, aber Kleinigkeiten beschreiben.
Abergroße Winzigkeiten.
Mikroskopische Monumente.
August Locher saugte alles auf. Zwölf Jahre lang lebte er in diesem Kokon aus Geborgenheit, konnte seinem Abenteuerdrang, seiner Unternehmungslust und Wissbegierde freien Lauf lassen.
Bis zu jenem Abschiedsbrief in der Küche:
…es drängt und bestürmt mich ein Vorhaben, das ich zu halten geschworen habe. Ein Eid, dessen Erfüllung in meinen Händen liegt…
Seitdem forscht August nach den Gründen von Großvaters Verschwinden – nicht wie Sherlock Holmes, aber doch seine Fühler hier und da ausstreckend.
Und die Geschichten, die sie damals miteinander teilten, verbinden Enkel und Großvater immer noch auf unsichtbare Weise.
August Locher mäht Rasen. Auf dem Kopf trägt er ein geöffnetes Buch. Er saugt es auf.
Nachbarland
Den restlichen Häusern der Hinzestraße und deren Umgebung ist im Vergleich zu den beiden Lochergebäuden zumindest eine bautechnische Annäherung an das Schönheitsideal mittelständischen Wohnens anzumerken. Rein äußerlich sind sie normal, teilweise gar schön anzusehen. Familienhäuser mit allem Brimborium und im Falle von kindlichen Mitbewohnern: Schaukel, bunte Rutsche, wild zusammengenagelte Fußballtorgehäuse, Sandkasten mit allerlei Arbeitsutensilien – daneben Bungalows junger Elitepaare und Karrieregeier, Holzhäuser und überaus normale Reihenhäuser in einer üblichen Wohnsiedlung des 21. Jahrhunderts. Jedes Einzelne mit:
Dach und Giebel,
Tür und Fenster –
Und vielleicht auch Hausgespenster.
August Lochers liebster Nachbar heißt Wald. Die Familienmitglieder: Tannen, Kiefern, Buchen, Birken und so weiter. Sie haben Namen: Astmeier, Rindenbichl, Tannenturm, Wipfel, Baumberger und die anderen Holzigen. Dieser Nachbar ist schön und schweigt. Oder er flüstert Locher leise Sätze zu, die prompt von ihm beantwortet werden.
Wald: »So wuchs ich wohl zusammen, der Dir so schön erscheint, weil ich in holden Flammen noch Ahn und Enkel eine. Ich mahne mit allen Ästen, dass man sich lieben soll…«
Locher: »… und von gelehr’gen Gästen bist Du beständig voll.«
Locher spricht nicht so gern. Mit dem Wald aber schon. Frei nach Friedrich Hebbel, wie das Beispiel oben zeigt. Dies trägt unter anderem dazu bei, dass alle menschlichen Nachbarn ihn klassischerweise für irre halten. Verrückt und kauzig. Ein Buch während des Rasenmähens auf dem Kopf zu balancieren trägt nicht zur Milderung dieser Ansicht bei. Im Gegenteil. Nur mal angenommen, Ihr Nachbar spricht mit seinen Tomaten und hat den Pschyrembel auf dem Kopf, da würde es Sie doch drängen, in demselben Pschyrembel nach der pathologischen Diagnose dieses krankhaften Verhaltens zu blättern.
Herr Malangré ist Urologe und Lochers »Über-die-Straße-Nachbar«. Er lebt von seiner Frau getrennt. Dieser Umstand ist auf seinen Beruf zurückzuführen, was hier nicht näher erläutert werden will. Er hat eine Tochter, die wiederum von ihm getrennt lebt, weil sie bei seiner Frau lebt, und einen Golden Retriever, der im besten Fall auf den Namen Bombe hört. Eigentlich heißt er Bombay. Bombe klingt aber in Augusts Ohren besser. Wieso ein Hund nach der indischen 13-Millionenmenschenmetropole benannt ist? Bitte fragen Sie Herrn Malangré selbst. Muss aber keinen Grund haben.
Ungewöhnlich ist Folgendes. Obwohl Herr Malangré ein beneidenswertes Grundstück besitzt, ist es die Alltäglichkeit, dass der Hund jeden Tag vor Lochers Eingangstor abkotet. Wie auf Befehl. Locher hat schon unzählige Theorien der Abwehr ersonnen.
Eine ganze Dose Pfeffer müsste dem haarigen Köter das Rektum ausbrennen.
Schön wäre, so Lochers Gedanken, auch eine Anusexplosion gewesen. Aber der wandelnde Teppich wischt stets mit seinen Schwanzzotteln das Areal sauber, bevor er sein Geschäft verrichtet.
Glasscherben wären eine weitere hilfreiche Alternative… aber das würde auffallen und geht sogar Locher zu weit. Was bleibt? Er schreitet bei jedem neuen
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