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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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weder die Schweißflecken auf seinem Jägerhemd noch seine glitzernde Arschritze. Nur in den Kniekehlen ist eine Überhitzung seines Körpers in Form von Feuchtigkeit erkennbar. Dort färbt sich die Hose schwarz.
    Auf dem Kopf trägt er ein geöffnetes Buch.
    Auf dem Kopf trägt er ein geöffnetes Buch.
    Dieser Satz ist so grotesk, dass er wiederholt werden will. Sogleich zum dritten Mal.
    Auf dem Kopf trägt er ein geöffnetes Buch.
    Das balanciert August gekonnt, während er seinen Benziner sicher in die letzten Ecken des Gartens steuert. Durch das direkte Auflegen des Geschriebenen auf den Kopf erhofft sich August das Aufnehmen der Geschichte, zumindest eine intuitive Auseinandersetzung mit der Thematik – falls er anderes zu tun hat, wie in diesem Fall Rasenmähen.
    Es ist ein Buch über die heldenhaften Taten des Admiral Nelson. Locher liest gerne Geschichten über englische Welteroberer und Helden des Königreichs, wenn er sein britisch anmutendes Rasenstück frisiert. Er liebt Heldensagen im Allgemeinen. Und die Aufzeichnungen von Abenteuern. Amundsen, Wellington, Kapitän Ahab, König Drosselbart. Märchen liebt er ganz besonders, eigentlich phantastische Geschichten aller Art. Er liebt alle Geschichten, in die er abtauchen kann. In denen er selbst zum Helden wird. Er ist vernarrt in Geschichten, von deren Kick, wenn sich die Phantasie wie von einer Peitsche getrieben durch die Gehirnwindungen gräbt. Ein Buch klappt auf, der Kopf taucht ein, die Welt verschwindet, eine neue Welt geht auf. Eine bessere Welt. Wörter bilden ein buntes Gestrüpp, in dem er sich gerne verfängt. Aber gute Wörter bedarf es dafür. Nur ihnen wohnt die Magie inne, in einem Buch verschwinden zu können. Seit er Zacharias kennt, sind Bücher sein Versteck. Sein Versteck und seine Flucht. Mordende Märchen, aufständische Abenteuer, sibyllinische Sagen, moderne Mythen, endzeitliche Epen, hitzige Heldentaten, finstere Fiktionen. Lehrreich und übertragbar auf das Leben. Transponierbar. Im Grunde die Phantasie, im Kern die Wahrheit. Jede Erzählung hat ihre Moral. Sei sie noch so erdacht, sie liefert doch eine Konsequenz. Egal ob ein Raubritter die Prinzessin befreit, ein Fisch den Mont Blanc erklimmt, vier Töchter einen Herrn namens Angst bezwingen, ein Roboter eine Ringelblume liebt, eine böse Königin ihr Volk in Holzstäbe verhext, ein Jäger einen goldenen Hirschen schießt, eine rote Burg nur rote Feinde erkennt, ein Müllerssohn im Eckenwald verschwindet, eine Quelle das ewige Leben verspricht, in London Prostituierte einen Mörder jagen, ein Hase einem Igel die Sporen zeigt, ein Jüngling auf eine Bohne klettert, ein Amulett riesige Kräfte verleiht, einer Klagefrau zwei Hörner wachsen, Hochhäuser Fußball spielen, ein Besen zu tanzen beginnt, ein Unhold in einer Höhle wohnt, ein Dorf durch die Errungenschaft der Technik verschwindet oder ein Wanderer in einer Hütte einen Ermordeten auffindet:
    Jede Geschichte hat ihre Moral.
    Eine typische Locher-Theorie.
    Der größte Geschichtenerzähler ist verschwunden und hinterließ ihm den Eingang zu tausend regenbogenfarbenen Räumen. Der größte Geschichtenerzähler ist verschwunden, wohin, ist August nicht bekannt. Sein Großvater hat es ihm nicht gesagt. Nicht genau. Seine monotone Wiederholung »August, ich muss irgendwann einmal weg«, nahm der Enkel als kurzen Hinweis wahr, Opa müsse irgendwann einmal etwas besorgen. Oder als allgemeingültige Anmerkung, jeder müsse irgendwann einmal von dieser Erde gehen. Wie auch immer. August quittierte es meist mit einem »Jawohl« und widmete sich wieder seiner soeben verrichteten Sache.
    Seit Zacharias weg ist, fehlt ein Foto im Wohnzimmer und die zerkratzte, rote Blechschachtel mit vier alten Bleistiften darin, von denen er einen als Zwölfjähriger auf der Rückseite der beiliegenden Schmierzettel getestet hatte. Großvater ist damals fuchsteufelswild geworden. August hatte die Blechschachtel in einem oberen Fach des Kleiderschranks entdeckt und sie geöffnet. Als er den Stift kurz ansetzte, fuhr ihm ein harter Wind durch die Frisur. Die einzige Ohrfeige, die August von seinem Großvater je einkassieren musste.
    »Alles, August, alles darfst du anfassen. Meine Kleider, meine Bücher, meine Platten. Nur das hier nicht. Bitte, fass das nie wieder an, hörst du? Ob du das gehört hast?«
    Nach Augusts zaghaftem Nicken verstaute Zacharias das Kistchen mit dem Stift und den Blättern an seinem Ort, im besten Wissen, der Enkel würde

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