Grimms Erben
will. Weitere Merkmale sprechen dafür. Ihr Wohnhaus steht auf Hühnerbeinen, so wie es die slawische Mythologie übermittelt. Es sind natürlich keine echten Hühnerbeine, aber der dicke Efeuwuchs an jeder Ecke des Hauses gleicht knotigen Hühnerkrallen. Ihr zweiter Vorname ist Jadwiga, die Abkürzung hierfür Jaga. Maria Jadwiga Kowalski. Wenn das kein Omen ist, fress ich einen Besen. Einen Hexenbesen. Für Locher ist sie »Baba Jaga« Krawallski, die Hetzhexe aus der Hinzestraße.
Gegenüber von ihrem Wohnsitz befindet sich ein Garten, gespickt mit Holzskulpturen. Teure, mühevoll angefertigte und von diversen überregional angesagten Künstlern stammende hochangesehene Kunstwerke. Dahinter ein modernes, verschachteltes Holzhaus. Düsentrieb ist Ihnen ein Begriff? So in der Art.
Wie es der vermaledeite Teufel will, gehört der Besitz einem Künstlerpaar namens Gisbert und Lydia Engelhardt. Klingt fromm und friedlich. Ist es aber nicht. Sie sehen Lochers Anwesen als Konkurrenz zu ihrem von künstlerischem Anspruch durchtränkten Besitz. Klammheimlich könnte es sein, dass die beiden kinderlosen Bildhauer und -maler Augusts Garten und die zwei Gebäude interessant finden. Vulgär-expressionisitisch mit einem Hauch von Wurm. Das würden sie nie zugeben, denn der architektonische Platzhirsch des Viertels sind sie, das wollen sie so. Neid und Missgunst verweigern den Schritt zur Ehrlichkeit. Und der Weg hin zu Abneigung und Hass sind nicht weit. Die Engelhardts geben zwar begrüßungsähnliche Laute von sich, aber August hat schon öfter bemerkt, dass sie hinter seinem Rücken mit Gesten der Verachtung hantieren. Scheibenwischer, exponierter Mittelfinger und Weiteres. Künstler sind extravagant, auch eine Spur irre. In Lochers Augen sind die Engelhardts böse Magier. Und die Holzskulpturen sind für ihn wirr zerhackte, verletzte Baumstämme. Körperverletzung an der Natur, was auch seine holzigen Freunde bestätigen.
Die Hinzestraße ist nicht lang, aber weitere Familien haben in ihr Platz. Manche nicht so bösartig wie die direkten Nachbarn. Aber selbst sie verfluchen den Wal. Alle aus der Siedlung gegen die Hinzestraße 12. Die niederbayrische Kleinbürger-Pequod gegen Moby Locher. So fühlt sich August. Oft. Bedroht von den Menschen.
Der Fragenmann
Karl Rettig, der Fragenmann. Wohnt nicht in der Hinzestraße, sondern in der Reinekestraße, Ecke Tybbkestraße, Sie wissen schon, die mit den Rotzbuben. Die Reinekestraße keine dreihundert Meter von der Hinzestraße entfernt. Karl stammt aus Afrika, genauer aus Nigeria, genauer aus der Nähe von Iwo im Bundesstaat Osun. Eigentlich ist er von hier, weil er als Baby hierherkam, per Losverfahren, an Familie Rettig ging, und seit dem Jahr 1985 hier aufwächst. Er ist dunkelhäutig, verhaltensauffällig, liebenswürdig. Er ist der Fragenmann und stromert durch die Gegend wie einst der Messias. Er verkündet, das schon, aber keine biblischen Botschaften oder Gebete der Heilung und Linderung. Er verkündet rhetorische Fragen. Er ist der einzige Freund von August Locher.
»Wussten Sie schon, dass am siebenundzwanzigsten März neunzehnhundertachtzig auf der durch einen Sturm gekenterten Erdölplattform Alexander Kieland hundertdreiundzwanzig Menschen starben?«
Karl Rettig ist Autist. Er leidet an einer besonderen Form, die ich Ihnen pathologisch nicht näher erläutern kann.
Seine Fragen bestechen durch phänomenales Wissen. Oder durch wilde Erfindungsgabe.
»Wussten Sie schon, dass die akribischen Emirate mehr Fußvolk aufbieten könnten, als es in den Weiten der unergründlichen Textilchemie Bowie-Messer gibt?«
Erstaunlich. Zusammenhangloses Gefasel wechselt mit bestechendem Fachwissen ab. Wieso er wann welche Information verpackt in Frageform anbringt, ist keinem klar. Karl Rettigs Eltern natürlich auch nicht, sie haben ihn adoptiert und leben nun mit einem wandelnden Lexikon, das inhaltlich mit einigen Karambolagen aufwartet.
»Wussten Sie schon, dass japanische Falzkunst auf High Noon verlegt wurde, damit er hydraulisch besser verpufft?«
»Hallo Karl«, grüßt August Locher. »Wie geht’s denn heute? Heißer Morgen, nicht?«
»Hallo August«, bringt Karl Rettig. August ist der Einzige, den er erkennt und namentlich grüßt. Eine Farce, dass ein Mensch, der nur mit rhetorischen Fragen kommuniziert, der Einzige in Lochers Nachbarschaft ist, der ein ordentliches Hallo hervorbringt. Mehr noch. Die beiden verbindet ein unbändiges Urvertrauen in die
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