Grimms Erben
des Waldes war, der hinter Lochers Zaun beginnt. Die hirschgeweihte Hütte wäre im Grunde nach eines Försters Fasson gewesen. Aber ein ichthyologisches Bauwerk der Marke »Schwermatrose« mitten im schönen Niederbayern? Indiskutabel. Der große Aufreger war allerdings folgender, bitte hören Sie sich das an: Den Kowalskis widerstrebten die Konversationen der Lochers mit »ihren« Bäumen zutiefst. Joseph Kowalski erteilte dem alten Locher ein Gesprächsverbot. Das Holz würde inneren Schaden nehmen und überhaupt: »Wir dulden hier keine Verrückten!«
Zacharias Locher: »Ich spreche, mit wem ich will.«
Die Kowalskis rasten vor Wut. Vorerst war aber nichts zu machen.
Im Jahr darauf ereignete sich der tragische Reitunfall von Frau Kowalski im Behringer Forst während eines einfachen Ausritts. Die Folgen kennen wir. In ihrem unerträglichen Leid und ihrer schäumenden Wut gaben die Kowalskis bei der Polizei an, dass der alte Locher den Reitunfall verschuldet habe. Sein Gespräch mit den Bäumen verunsicherte das sich nähernde Pferd in so hohem Maße, dass es der führenden Hand von Frau Kowalski nicht mehr zu folgen imstande gewesen sei und die Reiterin abgeworfen habe, gab man zu Protokoll, und Joseph Kowalski wandte sich an den Bürgermeister und ersuchte »Ein Verbot der verbalen Kontaktaufnahme zwischen Herrn Locher und dem Baumbestand vom Behringer Forst«. Herr Kowalski wurde sofort, aber immerhin ehrenhaft, aus seinem Forstberuf entlassen. Auf ein psychologisches Gutachten wurde verzichtet. Maria Kowalski verstand die Welt nicht mehr. Nun hatte sie neben ihrer Körperbehinderung auch noch einen geschassten Förstermeister an ihrer Seite. Was sagen nur die Leute zu dieser beruflichen Schmach ihres Mannes? Die Schuld für Behinderung und Entlassung lag natürlich bei dem asozialen Locherpack, den geistig eingeschränkten Baumrednern.
Seitdem verleumdet die alte Kowalski: Erst beide Lochers. Jetzt nur noch August.
Wie eine rasende Furie hat sie August angeschrien, als er ihr beim Überwinden einer diffusen Situation zur Hand gehen wollte. Panik zitterte in ihren Augen, und aus ihrem Mund prasselte Hysterie:
»Ich verfluche dich! Nimm die Pratzen sofort von meinem Rollstuhl. Ich verfluche dich!«
Für ihre siebzig Jahre ein stolzes Organ. Locher zog eine Entschuldigung brabbelnd von dannen. Dabei blieb er mit seinem Parka an der Bremse des Rollstuhls hängen. Der Stuhl drehte sich um seine eigene Achse, blockierte am Randstein der Hinzestraße und kippte.
Geschockt entfuhr ihm ein »Grimm und Ingrimm!«, das er in unkoscheren Situationen intuitiv benützt. Konsterniert und blass wollte Locher ihr Gefährt samt ihrer Person aufstellen.
»Pratzen weg! Nimm die Pratzen von meinem Rollstuhl. Ich verfluche dich!«
»Aber Frau Krawallski… ich will Ihnen…«, versuchte es August nervös.
»Kowalski, Sie Arschloch. Ich verfluche dich!«
»Ich fasse Sie unter den Armen…«
»Sexueller Übergriff!!!!«, brüllte die Alte. »Sexueller Übergriff auf eine Behinderte!« Sie feuerte ihre Einkaufstasche wie einen Morgenstern in Lochers Lendengegend. Dieser vollführte ein Klappmesser im Stand und ließ sie die bereits angehobenen Zentimeter wieder fallen. Elfenbeinfarbene Kauleisten flatterten über den Asphalt.
»Übelgliff! If vefluffe dif!«, hallte es aus ihrer leeren Mundhöhle.
Locher floh, eine siebzigjährige Querschnittsgelähmte hilflos auf der Straße zurücklassend. Über ihm zog ein schnatternder Krähenschwarm. Darin verfingen sich seine ungehörten, mit Entschuldigungen gefütterten Worte, und der Himmel verdunkelte sich kurz.
Vorfälle haben Nachspiele. Kennen Sie den Pavlov’schen Hundeversuch? Ein Hund bekommt kurz vor seinem Fressen eine Glocke zu hören. Wenn der Hund das Essen sieht, setzt der Speichelfluss ein. Irgendwann bleibt das Fressen aus, aber die Glocke impliziert dem Hund, es müsste ja gleich Nahrung geben. Und: Speichel fließt. Eine klassische Konditionierung.
In unserem Fall ist Frau Kowalski der Hund. August Locher die Glocke. Und die Speichelsekretion ein sirenenartiges »Ich verfluche dich!« Locher muss sie nicht berühren, nicht mal in ihrer Nähe sein. Der bloße Anblick reicht. Tragisch.
Aufgrund ihrer ostpolnischen Abstammung ist sich August Locher sehr sicher, dass es sich bei Maria Kowalski um eine Reinkarnation der hinterlistigen Hexe »Baba Jaga« handelt, die ihn als ihre Gestalt ändernde Unruhestifterin mit ihren Ausrufen und Flüchen in den Tod hetzen
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