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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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Gutherzigkeit des jeweils anderen. Und ein paar autistische Züge trägt August Locher schon auch in sich, das darf man sagen.

    »Wussten Sie schon, dass der Ahuehuete-Baum in Santa Maria de Tule im Staat Oaxaca, Mexiko, genannt El Gigante, achtundfünfzig Meter Stammesumfang hat?«
    »Nein, Karl, keine Ahnung. Ich weiß nur«, schnurrte Locher, »dass man aus Bäumen Papier herstellt, auf das man Millionen wundervolle Geschichten schreiben kann.«
    »Wussten Sie schon«, mechanisch, aber lächelnd antwortet beziehungsweise fragt Karl, »dass ›Tausendundeine Nacht‹ eine Rahmenerzählung mit vielen Schachtelgeschichten ist?«
    Locher lächelte. »Ja, Karl, das wusste ich. Bis später.«
    »Hallo August«, verabschiedet sich der Fragenmann.

    Die Supermarktelfe
    Der Fragenmann blickt Lochers Kopf nickend nach, als dieser mit seinem Rad die Hinzestraße hochstrampelt. Hinter einem Wall aus Thujen steigt ein schrilles »Ich verfluche dich!« auf. Offenbar hat Frau Kowalski beim frische Luft Schnappen am Fenster den vorbeirauschenden August erspäht. Oben an der Tybbkestraße legt er sich in die Kurve. Man wundert sich, wie Locher trotz einer antiaerodynamischen Gestalt hochwertig beschleunigen und konstant Tempo halten kann. Hohes Tempo. Er werkelt wie ein Löwe auf dem Adler. Das strampelnde Geschöpf ähnelt einem Greif. Halb Adler – halb Löwe.
    Der Greif lässt die Umwelt Umwelt sein und diese neben sich vorbeiziehen.
    »A-Locher! A-Locher! August Locher! Arschlocher!«
    Aha, August passiert gerade die Tybbkestraße, Sie wissen, die mit den Rotzbuben. Eine nicht überzeugende Begrüßung. Ein unliebsamer Zwischenruf. Nicht der Rede wert – für Locher. Das ist er gewohnt.
    Die Rotzbuben ziehen heute zu langsam ihre Steinschleudern. Versuchen nun ihre Worte als Waffen zu benützen. Sie treffen das Zielobjekt, aber sie perlen an ihm ab. August Locher, die menschliche Teflonpfanne.
    Er ist etwas spät dran. Kinder schlendern schon zu den diversen Erziehungsanstalten in dieser Gegend. Grundschulen, Hauptschulen, Gymnasien. Einige Jugendliche zu Berufsschulen und Baumschulen. Die Rotzbuben, die er schon hundert Meter hinter sich hat, zur Sonderschule.
    Seine Waden nehmen Form an. Er presst Energie in seine Oberschenkel. Die Nadel seines Tachos zittert sich weiter nach oben. Wie ein Taktstock klopft sie gegen die 33 km/h. Sein Adler schwingt über den Markartplatz in die Lupardusstraße. Schnalzend flattern die Pedale an den Geschäften und Läden vorbei, die zum Teil schon geöffnet sind. Die Kreuzapotheke. Sigi Wagner, der Uhrmacher. Elektro Wehmayer, der vor seiner Glastür jeden Morgen eine Havanna raucht. Das Bild passt nicht. Ein Elektrikermeister mit einer schweren Zigarre. Er sieht damit wie eine Fidel-Castro-Kopie im Blaumann aus. Der Phasenprüfer am Gürtel könnte eine Pistole sein.
    Locher grüßt den Arm hebend, automatisch, jeden Tag. Wehmayer schüttelt nur den Kopf, automatisch, jeden Tag.
    August grätscht in die Bremsen. Die Kapuze seines Parkas schnellt über seinen Kopf nach vorne. Er steigt wie ein Polarforscher von einem Schlitten. Einem Expeditionsführer in der Antarktis gleich – bei 26 Grad. Amundsen im Frühling. Schnell wackelt er in den Supermarkt, in dem er sich täglich seine Mittagspause besorgt.
    »Ui«, macht er, als er beim Eintreten in Richtung Kassen schielt. Der Puls steigt ein wenig, noch weiter, als er von der Anstrengung der körperlichen Belastung eh schon war. »Ui, tatsächlich.«
    Ein Apfel rollt über die grauschwarz melierten Fliesen, eine Mango poltert hinterher. Locher bleibt mit seiner Umhängetasche, die aus Ziegenhaaren besteht, an einer Dose Litschis hängen. Zack – sie fällt zu Boden. Er bemerkt es nicht.
    »Hee, Sie.«
    Locher dreht sich um. »Guten Tag.«
    »Hee, oder?« Wieder so eine tolle Begrüßung.
    »Wie bitte?«, fragt Locher die Dame, die in grüner Uniform, die obligatorisch für diese Supermarktkette ist, vor ihm steht. Es ist eine neue Angestellte.
    »Heben Sie das wieder auf, oder?«
    Locher versucht das, was er wieder aufheben soll, zu finden. Er denkt: Müsste es nicht heißen…
    »Können Sie das bitte wieder…« …oder aber: »Sie heben das schon wieder auf, oder?«
    Und dazu ein aufmunterndes Lächeln der Dame.
    Er erblickt das Fallobst und bückt sich danach. War das ich?, denkt er. Und noch: Ein Apfel kann nicht schaden —für die Mittagspause.
    Locher macht seinen Fingernageltest. Der Apfel ist saftig und zum Kauf empfehlenswert,

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