Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
Vom Netzwerk:
irgendeinem Geldigen ein oder sogar zwei von Karl Benz verkauft hat.
    Der einzige menschliche Muskel, der nur an einem Ende befestigt ist, hängt Björn-Ben triefend aus dem Mund. Wüsste August es nicht besser, würde er annehmen, der schmächtige Junge leide unter einer geistigen Einschränkung. Tut er aber nicht. Er ist ein gesunder Mensch, wobei gesund hier außerhalb der gängigen Definition liegt. Als der Junge bemerkt, dass Locher ihn als »Zungenblecker« erkannt hat, geht er grinsend und mit erhobenem Kopf in die Garage. Von dort ist etwas später ein helles Surren zu vernehmen, dem ein dumpfer Schlag folgt. Deutliche Zeichen des Vorgangs Bogenschießen.
    Schieß dir doch in den Schuh.
    Bei dem Wort Schuh fällt Locher wieder der Malangré’sche Kothaufen vor seinem Portal ein. Damit nicht noch mehr seiner Schuhe der Unsauberkeit anheimfallen, müsste er umgehend handeln und zur Säuberung schreiten.
    Andererseits kocht er gerade und will sich die Finger und das Gemüt nicht verschmutzen. Nun trifft aber das gute Gemüt auf das schlechte Gewissen und lässt ihn aufmerksam werden, woraufhin er das schwarze Messer prompt fallen lässt. Es bohrt sich zwischen großen Zeh und Zeigezeh durch seine Joseph Beuys’schen Filzpantoffeln, ohne einen geritzten Schaden am Fuß anzurichten. Im Grunde hat er das doch gerade dem Wolf-Flegel gewünscht. Kleine Sünden bestraft der liebe Gott eben sogleich. Glück gehabt. Wie Excalibur steckt das Metall nun in seinem Schuh, der mit dem PVC-Boden verankert ist.
    Er zieht die Küchenklinge aus dem Schuh, aus dem Socken, aus dem Linoleum und eilt zur Haustür. Mit dem blitzenden Schwert in der Rechten marschiert er auf dem dämmrigen Weg zur Gartentür. In der Linken einen Plastiksack. Er geht eilig, soll doch die Suppe nicht überkochen. Mit genervtem Gesichtsausdruck und hohen Bewegungsamplituden erreicht er die Pforte, an der gerade das Künstlerpaar Engelhardt vorbeispaziert. Hat offenbar einen Verdauungsspaziergang im Wald abgehalten. Der heranstürmende Locher mit erhobenem Schwert und einer Plastiktüte, in der er vielleicht Leichenteile entsorgt, schockt die Engelhardts schwer. Sie weichen schreiend auf die Straßenmitte zurück.
    »Sind Sie irre, Mann«, giftet der Ehemann und zieht seine Frau mit ängstlich flimmernden Augen zu ihrem Grundstück.
    Locher ist konsterniert.
    Was denken die denn? Dass ich hier mit einem Küchenmesser auf die Leute losgehe?
    Ja, du lieber August, das denken die.
    Kurz bevor Gisbert und Lydia Engelhardt in ihrem Haus verschwinden, schreit die Frau noch »Sie Schwachsinniger!«
    Sie Schwachsinniger. Kein weiteres Substantiv. Nichts sonst. Ein Schwachsinniger. Lydia Engelhardt hätte auch schimpfen können: »Sie schwachsinniger Buchbinder!«, »Sie schwachsinniger Drecksack!« oder originellerweise »Tod dem weißen Wal!« Aber nein, in Lydia Engelhardts Augen ist August Locher ein minderbemittelter Mensch.
    »Sie Schwachsinniger!«
    Und Gisbert noch mal: »Das hat ein Nachspiel! Sie Attentäter! Das kostet Sie was, das schwören wir! Sie… Sie… Sie!…«
    Die Gemüsesuppe schmeckt heute nicht.

    Von Humpelstilzchen und Meerjungfrauen
    Würde man Locher durch eine Wärmebildkamera betrachten, sähe man aus seinem Parka Hitzewellen in Form von roten Flimmerarealen aufsteigen. Der Mann brennt zweifelsfrei. 37 Grad im Schatten, die Geschichte lügt nicht, wenn sie behauptet, einen der wärmsten Junis seit Messung des Klimas vorweisen zu können. Wie Gregory Peck als Kapitän Ahab in der Schlussszene in »Moby Dick«, nur ohne den seemännischen Kinnbart, so lehnt Locher an seiner Hauswand und winkt den Bäumen. Seine Kumpels stehen ohne Windbewegung vor ihm stramm, wie die Crew der Pequod.
    Locher: »Ein buntes Wehr vorm Grau in Grau, einen Schutzwall voll der Nadel, Blätter, Äste, Wurzelschlag…«
    Wald: »… bauen wir Dir ohne Tadel.«
    Frei nach Locher, in diesem Fall.
    Nach einer langen Verneigung tritt Locher in den Schuppen, an dem die Vielzahl der darauf angebrachten Geweihe von der Hitze erschlafft herabhängen. Sie sehen aus wie Dampfwürste, bevor sie gekocht werden, obwohl sie gerade gekocht werden. Locher stöbert 35 Minuten in einem orientalischen Märchenband. Ihn interessiert eine Geschichte über türkische Bäder und danach sucht er, findet sie und genießt sie.
    Pah, die Türken hatten schon Ahnung von Zauber und solchen Kalibern. Und Kalifen natürlich.
    Nun sitzt er auf dem Fahrrad. Er tritt mit einer ungemeinen

Weitere Kostenlose Bücher