Grimms Erben
steht im Wohnzimmer auf einem grauen Beistelltisch. Eine zum Zeitpunkt der Erwerbung hochmoderne Kompaktanlage »Studio 60« von Braun, bestehend aus dem Verstärker »csv 60« und dem Plattenspieler »PCS5«, mit deren Hilfe August Locher, wie sein Großvater davor, in die wunderbaren, sphärischen, swingenden Klangwelten eintaucht. Ähnlich wie mit seinen Büchern, nur auditiv, bewegt er sich hier auf einem Terrain, das ihm seelischen Balsam verabreicht. In neue Welten mit alten Helden!
In einem einfachen, altargroßen Regal an der Wand, neben der »Studio 60«, stapeln sich die runden Körper der Jazzplatten. Sie sind eingefasst in viereckige Kartonagen samt Bildaufdruck, so wie man es von Platten eben gewohnt ist. Was man nicht gewohnt ist, ist ein karierter kleiner Block, der neben dem etwas moderneren Grammophon ruht. Der Stift ist gerade zu Boden gefallen, das ist aber eigentlich egal. Die Funktion der Schreibutensilien unterliegt dem apodiktischen Wunsch Lochers, jedes gespielte Lied zu notieren. Interpret und Titel. Bei manchen Notizen ist zum Beispiel noch bei Klaviersolo abgebrochen angefügt. Wenn ein Lied nicht das Ende erlebt, frühzeitig der Grammophonnadel entzogen wird, aus Gründen der Rastlosigkeit, der Langeweile oder der Zeitnot, wird dies von Locher genau vermerkt. Nach dem C-Teil abgebrochen, Nach Dukes Solo abgebrochen, In Ellas letztem Refrain abgebrochen.
Big Brother is hearing you!
Somit herrscht Chancengleichheit unter allen sich in der Musikbibliothek befindlichen Künstlern.
Es kann kein böses Erwachen aufgrund ungerechter Verteilung von Abspielhäufigkeiten geben. Wie das gemeint ist? Keine Ahnung.
Es ist eine typische Locher-Theorie. Aber auch eine leichte Locher-Paranoia.
Ein schwerer Deutschlandatlas trennt die interessanten Jazzplatten vom kümmerlichen, unerheblichen Teil der Vinylsammlung.
»Wieso ist denn der Atlas nicht in der Bibliothek draußen?«, wollte der kleine August einmal wissen. »Ist doch auch ein Buch.«
»Aber eins ohne Geschichten. Deswegen verwende ich den Atlas als Plattentrenner«, sagte Opa belehrend.
»Warum hast du überhaupt einen Atlas, hast ja nicht einmal ein Auto.«
»Weil der Mensch wissen muss, wo er herkommt, wo er ist und wo er hinwill, das ganz besonders.«
Wo er hinwill, das ganz besonders.
Der letzte Teil der Erklärung hatte in Augusts Ohren etwas Prophetisches, ohne es näher bestimmen zu können. Von Zeit zu Zeit blätterte August darin, um sich eine geographische Grundkenntnis anzueignen. Immerhin kommt er ja von woanders her, wohnt erst seit kurzem hier, und wer weiß, vielleicht will auch er einmal woanders hin. Ferne Atlasgedanken.
Beim Durchforsten des nicht so beliebten Anteils der Schallplattensammlung fand August vor etwa drei Jahren eine Aufzeichnung. Vielmehr war es eine zwar kindliche, aber detaillierte Skizze in Klarsichtfolie, die aus einer der Kartontaschen einer Vinylschallplatte segelte. Der Interpret war Robert Merrill, ein amerikanischer Opernsänger, was hat der hier zwischen den Jazzgiganten zu suchen? Ach ja, hier, gucken Sie mal, Lied Nummer 16: »Jonah and the Whale«. Offenbar eine musikalisch-architektonische Verzahnung. Auf dem recht alten Blatt Papier waren mehrere Darstellungen eines Walfisches zu sehen. Sofort war zu erkennen, dass der Urheber bemüht war, mehr ein Gebilde als ein Tier zu veranschaulichen. Dünne Zeichenstriche boten mehrere Perspektiven auf das Bau-Wal-Gebilde, das architektonisch durchleuchtet wurde. Der Zeichner skizzierte mehrere Bauphasen, und August hätte augenblicklich einen Besen beziehungsweise einen gesamten Pottwal gefressen, wenn diese Striche nicht vom jungen Zacharias gezogen wurden. Die Raumaufteilung stimmt mit dem existierenden Moby Locher überein. August ordnet wie folgt: Entree: Garderobe, Stauraum. Flur: Zubringer zu den Zimmern. Bad: Badewanne, Toilette, Waschbecken. Zwei Schlafzimmer: August und ehemals Zacharias. Die Küche: Koch- und Essplatz. Das Wohnzimmer: Musikzimmer, Aufenthaltsraum mit Couchlandschaft, Gemälde- und Fotokammer. Passt.
Die Technik, einfach verputzter Ziegelbau im Gewölbeprinzip mit Raumtrennung durch Wandeinzug, alles aufgezeigt. Unten steht noch in Opas geschwungener Handschrift: Scharlih und Pip im Bauch des Wals, Dezember 1937.
Dieser Fetzen bestätigt August, dass Großvater Zacharias nach diesem skizzierten Vorbild sein Haus errichtete. Offenbar von langer Hand geplant. Von sehr langer. Scharlih und Pip – die Namen kennt August
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