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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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zum einen ist Locher für maritimes Sporttreiben nicht spezifisch gekleidet. Er trägt nur eine normale, feingerippte Unterhose am Mann. Zum anderen ist Locher überhaupt in den letzten Jahren wenig geschwommen, da schwimmen Haut zeigen bedeutet, und Haut zeigen Verbrennungen nach sich ziehen kann, und Sie wissen ja…
    Hallenbäder sind meistens so voll und eng, und da ist sozialer Kontakt noch weniger zu vermeiden als im Freibad. Sozialer Kontakt bedeutet Demütigung und Unfreundlichkeit. Einsame Badeseen würden gehen, aber die liegen ja wieder im Freien und im Parka ist schlecht schwimmen. Jedoch, er muss zum Schwimmbecken. Hier und jetzt und überhaupt.
    In seiner weißen Feinrippunterhose hüpft er dorthin. Seine Körperfarbe ist von der Unterhose nicht zu unterscheiden. Eine farbenlose Allianz. Ein reines Weiß, nur die Hände und der Kopf zeigen deutlich Teint. Dadurch, dass die Sonne auf ihn scheint, reflektiert er wie ein Spiegel und schickt gleißendes Licht durch das öffentliche Bad.
    »Hey, wohl’ne Zehnerkarte im Sonnenstudio gewonnen, was?«
    Jugendliche Flegel rufen einige Frotzeleien.
    »Ein Illuminati!« oder »Alle Sonnenbrillen auf!!!« oder »Bitte Blitzdingsen Sie mich nicht!«
    Betreten versucht er die Rufe zu überhören, wobei er den Inhalt des letzten nicht versteht. Sind Sie kein Cineast, ergeht es Ihnen genauso.
    Jetzt, so ohne seinen Anorak, friert er sogar. Gänsehaut kommt. Er sieht aus wie ein gerupftes Huhn. Sein Schiefhals und seine unrunde, ellipsierende Gangart verstärken das Bild. Unsicher geht er weiter. Seine Brille musste er aufbehalten, damit er den Weg findet. Sonst wäre er am Ende doch noch ins Kinderbecken gesprungen. Er hat die beiden Sehgläser Richtung Schwimmerbereich gereckt.
    Hätt ich mir doch schon früher denken können, dass die ins Freibad geht. Und ihre sonnenstudiogebräunte Haut präsentiert. Wäre ich doch schon öfters hier gewesen. Lecker wie Spitzbubkäse.
    Neugier und Verehrung lassen ihn Fahrt aufnehmen. Die Beine holen weit aus, die Zehen greifen tief wie Spikes in den Rasen. Sein Kopf dreht sich suchend wie ein Radar. Ein Cernak-Radar.
    »Grimm und Ingrimm!«, entfährt es ihm plötzlich gereizt. Er ist vor lauter Gucken mit dem Fuß gegen eine Abfalltonne gestoßen. Schmerzhafte Angelegenheit. Der große linke Zeh pocht gemein. Der Abfalleimer, der immerhin aus einem Eisengeflecht besteht, ist umgestürzt. Der sich darin befindende Unrat, Eistütenpapier, Obstschalen, leere Plastikflaschen, ergießt sich über eine nicht besetzte Liegefläche. Einige Bienen surren verstört aus dem Abfallbehältnis. Humpelnd durchwatet Locher das knöcheltiefe Duschbecken, dessen Wasser furchtbar kalt ist und in dem Blätter und Haare schwimmen. Der Schmerz lässt nach, das Humpeln bleibt.
    Du Humpelstilzchen.
    Locher kichert. Kurz darauf steht er in Feinrippwäsche an der Beckenseite neben den Startblocks. Die ihn bestaunende Menschenmenge summiert sich. Was für ein Anblick – dieser völlig apathisch blickende, in weiße Haut gewickelte Mann.
    Die Cernak schwimmt in Lochers Richtung, also nähert sich ihm an. Gut so.
    Eine Elfe.
    Ihre Brüste schiebt sie wie zwei nach oben treibende Styroporkugeln vor sich her. Bei jedem Armzug drohen sie, seitlich davonzuschwimmen.
    Ein Schmetterling.
    Ihr Frisurturm sticht wie eine Krone vom Wasser unberührt durch das Becken. Er analysiert schnell ihren Beinschlag.
    Wie eine Meernixe. Wundervoll.
    Mehrere Badegäste deuten auf den seltsamen Bleichen. Manche kichern, andere halten entsetzt die Hände vors Gesicht, Eltern ziehen ihre Kinder aus seiner Nähe weg.
    Personen, die ihn kennen, sei es vom Sehen oder persönlich, winken entweder ab oder scheinen von Lochers Aufzug belustigt. So wie sein türkischer Arbeitskollege Öner Cicek, der mit seinem Familienclan, insgesamt 67 Mitglieder, heute anwesend dreizehn, auch die Sonnenstrahlen an diesem wunderbaren Familiensamstag genießt. Der steht hinter der Hecke auf der Liegewiese, hat Locher aber entdeckt und ruft nun:
    »Locher?!«
    Locher hat nur Augen für die Cernak. Sein Umfeld, das sich zum größten Teil über ihn wundert, nimmt er momentan nicht wahr.
    Ich muss hinein, ins Wasser. Ich muss zu ihr.
    Öner versucht es noch mal. »Ey Locher! Unterhose, oda was?«
    Keine Reaktion.
    Locher nimmt auf Startblock zwei Position ein. Kurze, ruckartige Gymnastikübungen hält er als Aufwärmmanöver für geeignet. Da er nie Sport treibt, sieht das aus, als ob er Fliegen

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