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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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ehrlich zu sein, Sie müssen nicht unbedingt ein sportlicher Klettermaxe oder ein Messner-Apostel sein, um dieses gemalte Höhenzugpanorama schön zu finden.
    Wie es der Teufel und das Klischee so wollen, röhrt im Vordergrund auf einer Almwiese, am Rand eines zauberhaften Waldes, ein Hirsch. Zwölfender. Majestätisch. Im Hintergrund eine nicht zu verachtende Hütte, wiederum dahinter ein Bergmassiv, dass man sich denkt: »Hollareiduljö!« Aber in perfektem Bayrisch.
    Vor diesem Gemälde stand der Großvater immer sehr lange und sinnierte kopfnickend. Aus seiner Keramikpfeife dampfte dann das Kraut, und der Rauch tanzte im Raum. Das letzte Mal vor sechzehn Jahren.
    Vor diesem Gemälde steht auch August lange und interpretiert jeden Tag eine andere Geschichte hinein. Was in dem silbernen Märchenwald so geschieht, was in dem von Sagen umwobenen Bergmassiv alles passiert, welcher Bauer, Hexer, Bettler oder König in der Hütte wohnt. Ein Blick, ein Intermezzo. Jeden Tag von neuem. Der gleiche Blick, ein anderes Erlebnis. Tausendfach verschieden. Elfen, Ritter, Roboter, Drachen, Adler, Zwerge, Maschinen, Menschen und und und, in einem halben Quadratmeter Ölmalerei versteckt. Die Tür zu einer mystifizierten Welt. Er öffnet sie immer noch gelegentlich und verschwindet darin. Das letzte Mal vor sechzehn Minuten.
    War es die Atmosphäre des Bildes, das Großvater beim Betrachten auf die gleiche Reise wie August schickte? Oder sah Großvater in dem Bild etwas ganz anderes, etwas Tieferes, etwas im Motiv, dessen Bedeutung noch hinter den in Öl gefassten Pinselstrichen lag? Ein weiteres Rätsel.
    Die fehlende Schachtel mit den Blättern und Stiften darin, die August als Kind einen saftigen Backenstreich einhandelte.
    Das fehlende Foto von Zacharias und dem unbekannten jungen Mann – Scharlie & Pip.
    »Das Deutsche Wörterbuch«, das jährlich per Post in die Hinzestraße 12 rauscht.
    Das Ölgemälde mit dem unwiderstehlichen Bergpanorama, das Zacharias, wie auch August, stets bei Betrachtung in magischen Bann zog.
    Viele Rätsel, viele Geheimnisse, Teile des großen Verschwindens des Zacharias Locher.
    Verzeihen Sie, aber dies habe ich mir nicht aus den Fingern gesaugt. Dies sind nicht wegzudiskutierende Tatsachen, welche rätselhaft, fast undurchschaubar auf Augusts Gemüt drücken. Nicht dass er nicht mehr arbeiten, essen, trinken, Rad fahren, lesen, buchbindern oder leben könnte, das funktioniert alles bestens. Er ist mit sich im Reinen. Doch bei genauerer Betrachtung dieser mysteriösen Umstände steigt die Neugier. Bei Ihnen. Bei mir. Bei Locher. Deswegen wird die Nase dann und wann länger. Die Spürnase. Dann und wann. Nicht heute.
    Locher steht in der Küche und schneidet die Zutaten zu einem Gericht, das er häufig zubereitet. Die Zutaten entwendete er seinem Gemüsebeet. Es wird Gemüsesuppe geben, das haben Sie gut kombiniert. Während er eine gelbe Rübe zerkleinert, aus dem Wohnzimmer immer noch Dexter Gordon tönt, spricht er mit seinem Kanarienvogel, der auf dem Fenstersims in einem Drahtkäfig sein Zuhause hat. Der Vogel heißt Nilrem, Sie müssen nicht lange raten, nach wem benannt. Na? Versuchen Sie es rückwärts. Richtig, nach dem größten Magier der Märchenwelt. Locher erhofft sich immer noch eine Verwandlung des Kanarienvogels, so dass eines Morgens ein alter graubärtiger Zauberer im Käfig sitzt und über die Enge schimpft, seine Bandscheiben wären ja nicht aus Gummi.
    Warum er ihn Nilrem und nicht Merlin nennt, hat einen driftigen Grund. Locher wünscht sich im Falle des Falles eine einwandfreie Metamorphose. Da es sich ja dann um eine rückläufige handelt, will er keine Verärgerung des Magiers riskieren, der, würde der Vogel Merlin heißen, ja durch die Umkehrung des Ganzen Nilrem hieße.
    Ein verärgerter Zauberer könnte giftig werden,
    da können Sie Gift drauf nehmen.
    Eine typische Locher-Theorie.
    Also heißt der Vogel eben Nilrem. Falls Sie den letzten Zeilen nicht folgen konnten, überspringen Sie diese einfach und fahren Sie hier fort.
    Nach einem intensiven Gespräch mit dem Federtier über fremdartige Kulturen und deren Finessen blickt August aus träger Gewohnheit durch die Käfigstangen aus dem nicht mehr ganz sauberen Fenster. Steht doch der Nachbarsjunge, der Sohn der Wolfs, wieder am Zaun und streckt ihm die Zunge raus.
    Wie lange steht der fiese Balg schon da?
    Unterm Arm klemmt der mörderische Sportbogen. Vermutlich ein Geschenk vom Herrn Papa, weil dieser wieder

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